Diskussionsthema Energiewende - sind Kompromisse denkbar?

Leitartikel von Fabian Karsch

In den Diskussionen um die Politische Ethik wird der Antagonismus von Gemeinwohl und Eigennutz oft als „Krise“ des demokratischen Prozesses zum Thema, den es zu überwinden gilt. In soziologischer Perspektive wird jedoch deutlich, dass die dabei zutage tretenden Aushandlungsprozesse für die Integration und Problemlösung in einer liberalen Gesellschaft auch produktiv gelesen werden können. Der Soziologe Fabian Karsch plädiert am Beispiel der Energiewende deshalb dafür, die unterschiedlichen Positionen über Ausbauziele und regionale Zumutungen nicht als Schwäche, sondern als Stärke einer demokratischen Kultur des Streits zu interpretieren.

Die Debatte zur Energiewende ist durchdrungen von Erwartungen an unbekannte Zukünfte. Was wir als Energiewende bezeichnen, ist daher mehr als der Umstieg auf erneuerbare Energieträger. Energiewende ist ein gesellschaftspolitisches Programm, das als ein „Bewegungsbegriff“ (Koselleck 1989) verstanden werden muss, also als ein „politischer Vorgriff in die Zukunft“, der aber gleichsam zur Mitwirkung an diesem Programm aktivieren soll. Im Sinne einer „ökologischen Modernisierung“ (Hajer 1997) wird von der Energiewende denn auch vieles erwarte: „Energiewende“ steht symbolisch für den Weg in eine nachhaltige, „grüne“ Zukunft, die sie mit den Mitteln hochmoderner Technologien umgesetzt sehen will. Dabei soll sie auch wirtschaftlich und im besten Fall kulturverträglich sein. Erliegen wir einer „Harmonie-Illusion“, wie dies der Soziologe Peter Wehling (1992: 236) angesichts früherer Umweltdebatten diagnostizierte? Wie ist mit Ambivalenzen umzugehen? Sind Konflikte überhaupt vermeidbar, sind Kompromisse denkbar?

Die Unordnung der Dinge

Die öffentliche Debatte zeigt: Die Verflechtungen, die den Bewegungsbegriff der Energiewende umgeben, bilden ein komplexes Arrangement aus technologischen, politischen, ökonomischen, sozialen, und kulturellen Zielsetzungen. Diese komplizierten Verbindungen lassen sich darauf zurückführen, dass die Transformation der Energieversorgung von fossilen zu erneuerbaren Energieträgern Auswirkungen auf die „Funktionsweise“ moderner Gesellschaften insgesamt hat. Gegenwartsgesellschaften sind in allen Bereichen auf die Aufwendung hoher Energiemengen angewiesen: Technische, wirtschaftliche und politische Infrastrukturen benötigen ebenso eine stabile Energieversorgung wie Individuen in ihrer alltäglichen Lebensgestaltung. Dadurch wird die Energiewende zu einem Politikum für Jedermann. Und so ist die Energiewende, die einst von einer ökologischen Ideologie angetrieben wurde, heute ein auch in der breiten Bevölkerung weitläufig anerkanntes politisches Vorhaben, jedoch eines, das gleichsam politische Lager transzendiert.

Gerade daraus resultieren neue Ambivalenzen: Die Energiewende ist sowohl das Projekt der Technikbegeisterten, als auch das von Umweltschützern. Atomkraftgegner protestieren unter Umständen gegen Windräder, während sich Konservative für den Ausbau erneuerbarer Energien in ihrer Region einsetzen. Einerseits erscheint die Energiewende als ein in die Zukunft gerichtetes Projekt, zum anderen aktiviert sie jedoch nostalgische Heimatgefühle und regionale Identitäten. Während in ländlichen Räumen eine Zerstörung der Kulturlandschaft durch den Infrastrukturausbau befürchtet wird, erhoffen sich viele gerade dadurch eine Aufwertung ländlicher Räume durch die Erschließung neuer Wertschöpfungsketten. Ferner scheinen sich auch die Verhältnisse zwischen politischer Steuerung, Partizipation und Autonomie neu zu ordnen. Die Dezentralisierung der Energieversorgung bedingt ökonomische und politische Partizipationsprozesse und macht eine Stakeholder-Kommunikation und -Integration zu einem unabdingbaren Bestandteil der politischen Planungsprozesse. Im Zuge der Energiewende soll die Autonomie in der Stromversorgung von individuellen Abnehmern und ganzen Regionen erhöht werden, während die Dezentralisierung gleichzeitig eine bessere Vernetzung des Gesamtsystems notwendig macht.

Man sieht: Die Energiewende entfaltet in ihrer Komplexität eine enorme sozialtransformatorische Kraft, in der sich politische Lager, Ideologien, Ansprüche an technische Innovationen und wissenschaftliche Bewertungen zu bisweilen unübersichtlichen Figurationen verbinden. Öffentliche Debatten zur Energiewende changieren dabei zwischen Effizienzdiskursen und Moralisierungen, zwischen der Legitimierung von Positionen unter Bezug auf wissenschaftliches „Faktenwissen“ einerseits und der Legitimierung durch Wertebezüge andererseits. Von den Akteuren wird gleichsam ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz erwartet, wenn etwa Landwirte entgegen kultureller Erwartungshaltungen zu Energiewirten werden (müssen), oder Anwohner ländlicher Räume in ein Spannungsfeld zwischen den oft als widersprüchlich erscheinenden Wertimperativen Heimat- und Klimaschutz geraten.

Konflikte als Erwartungsdissens

Kaum jemand ist gegen die Energiewende. Selbst diejenigen, die gegen ihr derzeitiges Voranschreiten protestieren, sind zumeist nicht dagegen, dass die Energiewende vollzogen wird, sondern wie dies geschieht. Konflikte resultieren häufig aus dem für die Energiewende einerseits notwendigen Infrastrukturausbau, der aber andererseits die ungeliebten (Groß-)Technologien sichtbar und erfahrbar macht. Zwischen Bioenergieregion-Idyllen und Technosociety löst Energiewende als Fortschrittsthema einen Erwartungsdissens aus. Energiewende-Konflikte sind mithin als Formen der Politisierung von Ambivalenzen zu verstehen, die aus als unvereinbar erscheinenden Erwartungen mindestens zweier Parteien resultieren. Konflikte im ländlichen Raum können hier als Beispiel dienen: Ist die Transformation von Heimat und Umwelt, die von vielen Menschen als Bedrohung wahrgenommen wird (Stichwort „Monstertrassen“), einfach hinzunehmen? Ist andersherum Protest gegen ein Fortschrittsprogramm, das für Klimawandel und eine „enkeltaugliche Zukunft“ eintritt, überhaupt legitim?  

Partikularinteressen und Gemeinwohl stehen hier nur scheinbar in einem Widerspruch zueinander – sie sind vielmehr im eigentlichen Wortsinne als ambivalent zu verstehen: Gültigkeit kann man beiden Positionen zusprechen. Auf den ersten Blick prallen hier Standpunkte aufeinander, die Ihre Legitimität und Geltung entweder wertrational oder zweckrational begründen. Auf den zweiten Blick wird freilich sichtbar, dass auch die Strategien zur Durchsetzung der Energiewende schon durch ihren Gemeinwohlbezug höchst normativ aufgeladen sind. Die Differenz der Bezüge liegt auf temporaler Ebene verankert. Die hier als Äußerung von Partikularinteressen beschriebenen Bürgerproteste reiben sich an den unmittelbaren Konsequenzen der Energiewende. Die langfristigen Ziele der Reduktion atomarer Risiken und die Erhaltung globaler Lebensräume durch Klimaschutz werden dabei keineswegs abgelehnt. Sie bleiben allerdings abstrakt und lassen sich so nur schwer gegen unmittelbare ästhetische Beeinträchtigungen, mutmaßliche gesundheitliche Risiken und die Bedrohung der kulturellen Identitäten aufrechnen. „Not-In-My-Backyard“ ist dabei keineswegs eine Position, die keine Kompromisse zulässt: trotz der pejorativen Konnotation des Begriffs des „NIMBY-Bürgers“ ist diesem Standpunkt eine gewisse Kompromissbereitschaft inhärent. „Verschone unser Haus, zünd’ andere an“ – mit dem Sankt-Florians-Prinzip hat der Realbürger, der gegen den Infrastrukturausbau protestiert, wenig gemein. Vielmehr geht es zumeist darum, in Verhandlung zu treten, um Lösungen zu finden.

Ambivalenzen fordern Kompromisse

Die Energiewende als ein von Ambivalenzen geprägter sozialer Prozess, ist auf den Kompromiss als Mittel zur Konfliktbearbeitung angewiesen. Dass in Energiewendefragen häufig vom Recht auf Partizipation gebraucht gemacht wird, macht Kompromisse noch dringlicher. Sozialer Wandel in einer deliberativen Demokratie muss diesen Willen zur Protestkundgebung und die öffentliche Verhandlung von Mitteln zur Zielerreichung aushalten können. Auch wenn diese auf den ersten Blick als Störfaktoren wahrgenommen werden. Die allenthalben zu vernehmende Aufforderung zur „Bürgerenergiewende“ und zu mehr Partizipation kann sich schließlich nicht darin erschöpfen, Maßnahmen zur Akzeptanzbeschaffung durchzuführen. Wenn Versuche der Symmetrisierung politischer Prozesse durch Transparenz, Wissensvermittlung und Mitsprachemöglichkeiten zu mehr Akzeptanz führen, dann ist das positiv zu bewerten. Doch auch dann, wenn Aufklärung und Teilhabeoptionen unter Umständen zu vermehrten Widerständen führen, ist dies als Konsequenz eines echten deliberativen Dialogs hinzunehmen.

Ethische Diskurse tendieren dazu, den Gemeinwohlbezügen einen moralischen Vorteil zu zusprechen, denn Klima-, Umweltschutz und Generationengerechtigkeit werden im Kontext einer Umweltpolitik der Nachhaltigkeit zu unhintergehbaren Zentralwerten. Doch ein „utopisch angereicherter Erwartungsbegriff“ (Koselleck 2006: 68), wie der der Nachhaltigkeit, oder der der Energiewende, ist auf den Kompromiss in der Gegenwart angewiesen. Kompromisse in Energiewendefragen werden sich zunehmend der Vermittlung von unmittelbaren Beeinträchtigungen Weniger (Partikularinteressen) und den längerfristigen Zielen (Gemeinwohl) widmen müssen. Dabei kann es durchaus ratsam sein, die Proteste „gegen“ die Energiewende positiv (unter Umständen euphemistisch) als Gestaltungswille zu interpretieren. In diesem Sinne ist die Dimension der Kulturverträglichkeit als eine weitere Säule der Nachhaltigkeit einzufordern. Es wird also über Werte verhandelt werden. Bereits dies würde der Soziologe Georg Simmel als eine Form der Vergesellschaftung bezeichnen. Die Fähigkeit zum Kompromiss, die aus dem „Streit“ hervorgeht, bezeichnet Simmel als „eine der größten Erfindungen der Menschheit“ (Simmel 1908). Er meint dabei nicht weniger, als dass die Fähigkeit zur Affektkontrolle und zur Verhandlung über Bedürfnisse ein zentrales zivilisatorisches Merkmal des Menschseins darstellt. Kompromisse werden auf Basis einer Antizipation unbekannter Zukünfte ausgehandelt – sie  sind daher auch keine auf Dauer gestellten Lösungen, sondern stets offen für weitere Verhandlungen. Die Energiewende wird zeigen, wie nötig dies ist.

Dr. Fabian Karsch war er als Projektkoordinator am Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften (TTN) München tätig. Seit Juli 2015 arbeitet er am Lehrstuhl Diversitätssoziologie an der Technischen Universität München.

Respons von Thies Clausen

Energiewende in Deutschland: Großprojekt einer pluralistischen Demokratie

Die Energiewende in Deutschland ist nicht nur aus technologischer, sondern auch aus politologischer und soziologischer Perspektive ein faszinierendes Projekt. So ist ihre heute tiefe politische und rechtliche Verankerung nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, um wie viel länger ihre Laufzeit ist als die von Legislaturperioden. Immerhin bringt die Energiewende politische Kosten mit sich: Deutlich wurde dies in den letzten Jahren besonders an der – zu Recht mittlerweile abgeflauten – Kostendebatte rund um die Energiewende, an den Konflikten um den Ausbau des Strom-Übertragungsnetzes, an dem Phänomen regionalen Widerstands gegen Windenergieanlagen sowie zuletzt an dem Widerstand gegen die Reduktion der Braunkohleverstromung als Beitrag zur Erreichung der Klimaziele. 

Diese offenbar weitgehende (wenn in gewissen Fällen auch limitierte) Bereitschaft, die politischen Kosten der Energiewende zu tragen, die sie als groß angelegtes Infrastruktur- und als ökonomisches Transformationsphänomen mit sich bringt, ist ohne die weitgehende grundsätzliche Unterstützung der Energiewende durch die Bürger kaum denkbar. Doch auch diese ist nicht selbstverständlich: So hat beispielsweise die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 in der deutschen Öffentlichkeit eine größere Bedeutung als in vielen anderen Ländern und die deutsche Reaktion auf die Reaktorkatastrophe von Fukushima fünfundzwanzig Jahre später war folgenreicher als die vieler anderer Länder. Wenn auch kulturgeschichtliche Bezüge zu den sog. Neuen Sozialen Bewegungen der neunzehnhundertsiebziger Jahre und viel weiter zurück zum Naturbegriff der Romantik auf der Hand liegen, so wird die Kulturgeschichte der Energiewende erst noch zu schreiben sein.

Die Energiewende und ihre Konflikte: Ein Normalfall pluralistischer Demokratie

Dementsprechend besteht der Bedarf, die vielen und komplex verwobenen Energiewendeaspekte zu deuten. Als Beitrag hierzu verstehe ich Fabian Karschs Essay „Energiewende – Sind Kompromisse denkbar?“, der danach fragt, wie das angedeutete Konfliktpotenzial zunächst einmal begrifflich zu fassen ist – als Voraussetzung für seine Bewältigung. Die Frage scheint vor dem Hintergrund einer politischen Kultur, die öffentlich ausgetragene Konflikte und resultierende Kompromisse erst allmählich in ihr Demokratieverständnis einschließt, besonders dringlich. Die lange vorherrschenden obrigkeitsstaatlichen und korporatistischen Intuitionen weichen erst langsam einem pluralistischen Verständnis demokratischer Prozesse, die geprägt sind von der kontinuierlichen Beteiligung einer großen Anzahl individueller und organisierter Akteure unterschiedlichen Typs.

Dies lässt sich an der Diskussion um die Energiewende gut beobachten. An ihr nehmen heute Ministerien und andere Behörden, Wissenschaftler, Politikberater, Verbände, Unternehmen, Gewerkschaften, Parteien, NGOs, Stiftungen, Bürgerinitiativen, Journalisten usw. teil. Die verschiedenen Akteure, die sich in zunehmend transparenten Diskussionsprozessen gegenüberstehen, bringen hier ihre jeweiligen Perspektiven ein, die je nach Akteurstyp immer auch von systemisch bedingten Institutioneninteressen geprägt sind und von unterschiedlichen Wahrnehmungen ihrer Umwelt, selten aber ganz abgekoppelt von Argumentationen, die das Potenzial haben, viele zu überzeugen. Legitimität entsteht vor diesem Hintergrund durch eine Kombination aus formellen und informellen Partizipationsmöglichkeiten und anerkannten, demokratischen Verfahren der Entscheidungsfindung. Diese Prozesse sind oft aufwändig, aber einfachere (z.B. expertokratisch-autoritäre) Lösungen sind nicht ernsthaft vertretbar.

Das Austragen von Konflikten und ihre Beilegung ggf. durch Kompromisse ist also kein Skandalon, sondern ein Modus, komplexe Entscheidungen demokratisch zu treffen. Dementsprechend sind auch die Konflikte rund um die Implementierung der Energiewende keinesfalls ein Stigma. Was sie aber sind, ist eine Herausforderung für die energiepolitische Entscheidungsfindung. Karsch beschreibt, dass einige die Energiewende begleitende Konflikte als Konflikte zwischen Gemeinwohl und Partikularinteressen gefasst („geframet“) werden. Ein solches framing ist geeignet, einen produktiven Umgang mit Konflikten zu gefährden. Denn es legt nahe, dass die Legitimität kollektiv bindender Entscheidungen an ein erkennbares Gemeinwohl geknüpft wäre. Doch wo es um erkennbare Wahrheit geht, ist kein Raum für Kompromiss und der politische Gegner hat es im besseren Falle schlichtweg nicht verstanden, im schlechteren ist er ein Lügner. So oder so ist dies das Vokabular unversöhnlicher Konfliktkonstellationen. Darüber hinaus scheint dem Gegenbegriff und dem Phänomen des Partikularinteresses – aus Perspektive politischer Ethik kontraintuitiverweise – jede politisch-normative Valenz abgesprochen zu werden.

Energiewendekonflikte als Gerechtigkeitsfragen

Die Delegitimierung der Ansprüche Einzelner durch ihre (Ab-)Qualifizierung als Partikularinteressen ist dabei weder fair noch zielführend. Überzeugender ist, die zentralen Energiewendekonflikte als ernst zu nehmende und politisch zu lösende Gerechtigkeitsfragen zu reformulieren. Die nationale und europäisch eingebettete Energiewende ist ein Beitrag zu dem Projekt, sich von zwei gravierenden negativen Externalitäten der Energiewirtschaft (i.w.S.) zu befreien: Von den verschiedenen Risiken, die von Kernkraftwerken ausgehen, und von den Folgen des Klimawandels. Unter Nutzung der heute verfügbaren Ressourcen und Technologien ist dies aber nicht möglich, ohne neue Externalitäten einzuführen, insbesondere die regional fraglos erhebliche Veränderung des Landschaftsbildes durch den erforderlichen Ausbau von Stromnetzen und Windkraftanlagen. Diese Veränderungen können sowohl die wahrgenommene Lebensqualität als auch ökonomische Werte (z.B. durch zurückgehende Immobilienwerte oder zurückgehenden Tourismus) mindern.

Während dabei die Reduktion nuklearer Risiken und die sich im Zuge der Energiewende stärkende Aussicht auf die erfolgreiche Bekämpfung des Klimawandels allen Bürgern annähernd gleichverteilt zugutekommt (wenn man von intergenerationellen Verteilungseffekten absieht), gilt dies nicht für die energiewende-bedingten Infrastrukturbelastungen, die vor allem punktuell in ländlichen Räumen anfallen, großstädtische Räume hingegen kaum betreffen. Es ist diese Ungleichverteilung von Nutzen und Nachteilen der Energiewende, die verständlichermaßen von besonders stark betroffenen Bürgern als ungerecht empfunden wird. Und diese Empfindung ist durchaus auch kompatibel mit einer generell positiven Einstellung zur Energiewende.

Wege zur Konfliktbewältigung

Es gibt also Gerechtigkeitsfragen, die sich im Zuge der Energiewende stellen, aber diese sind nicht gravierender als in anderen Bereichen (z.B. Flughafenbau und -betrieb) und es gibt bewährte Verfahren für ihre Bewältigung, von denen die wichtigsten kurz angesprochen werden sollen.

Unverzichtbar ist eine transparente öffentliche Diskussion über das, was und in welchem Sinne etwas erforderlich ist. Stand heute lässt sich die Energiewende in Deutschland nicht ohne substantiellen Ausbau von Stromnetzen und von Windkraftanlagen realisieren – zumindest dann nicht, wenn die Kosten in einem angemessenen Rahmen bleiben sollen. Angesichts der Komplexität, die hinter dieser Aussage steht, ist auch klar, dass solche Einsichten sich erst langsam durchsetzen und nur dann, wenn sorgfältig für sie argumentiert wird. Gesamtgesellschaftliche Lernprozesse spielen also eine wichtige Rolle: Solange nämlich der Verdacht herrscht oder gestreut werden kann, dass neue Leitungen gar nicht Energiewende-bedingt geplant werden, fehlt ein wichtiger, Akzeptanz stiftender Aspekt.

Doch bei der Feststellung von Erforderlichkeiten darf der öffentliche Diskurs nicht stehenbleiben, er muss auch ausloten, welche Implementierungsalternativen bestehen, vor allem mit Blick auf Möglichkeiten der Minimierung von Belastungen. Sind beispielsweise beim Stromnetzausbau verschiedene Trassenführungen denkbar? Lassen sich bestehende Trassen nutzen? Wo lässt sich Erdverkabelung nutzen? Zu welchen Kosten? Auch im Bereich der Windkraft stellen sich Fragen nach Abstandsregelungen, nach der regionalen Verteilung und der insgesamt erforderlichen Menge von Wind-Onshore-Anlagen.

Von zentraler Bedeutung sind auch Teilhabemöglichkeiten der Bürger an den Diskussions- und Entscheidungsprozessen. Da energiepolitische Kompetenzen über alle Ebenen des europäischen Mehrebenensystems verteilt sind, stellen sich unter Akzeptanzgesichtspunkten hier auch neue Fragen der Governance: Auf welcher Ebene sollte nach welchen Maßgaben worüber entschieden werden?

Schließlich dürfen auch Kompensationsfragen kein Tabu sein, schon deshalb, da es bereits heute Kompensationen gibt. So fließt beispielsweise im Fall von Windkraftanlagen im Regelfall Gewerbesteueraufkommen in kommunale Haushalte und insbesondere in strukturschwachen Regionen ermöglicht der Ausbau von Windkraft hochwillkommene Wertschöpfungsmöglichkeiten. Problematisch hieran ist wiederum die ungleiche Verteilung der Profite, die sich auch durch Beteiligungsmöglichkeiten von Bürgern nicht ausreichend mindern lassen. Hier sind evtl. weitere Instrumente für die gezielte Kompensation Betroffener zu schaffen.

Fazit

Die von Fabian Karsch aufgeworfene Frage: „Sind Kompromisse denkbar?“ sollte emphatisch bejaht werden: Kompromisse sind möglich, als Ergebnisse von Konflikten sind sie sogar normativer und deskriptiver Normalfall pluralistischer Demokratien – neu sind lediglich Energiewende-spezifische Konfliktkonstellationen. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass insbesondere Infrastrukturfragen im Zuge der Energiewende auch zukünftig umstritten sein werden, dass diese aber verhandelbar bleiben und den Kern des Gesamtprojekts nicht gefährden: Den Aufbau einer klimafreundlichen Energiewirtschaft, frei von Kernkraftrisiken.

Dr. Thies Clausen ist seit 2014 als Projektleiter für Strommarktdesign und Erneuerbare Energien bei der Berliner Denkfabrik Agora Energiewende. 

Die Diskussion wurde veröffentlicht im August 2015

Literatur zum Leitartikel von Fabian Karsch:

  • Hajer, Martin: Ökologische Modernisierung als Sprachspiel: Eine institutionell-konstruktivistische Perspektive zum Umweltdiskurs und zum institutionellen Wandel. In: Soziale Welt. 48. Jahrg., H. 2 (1997), pp. 107-131  
  • Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989.
  • Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006.
  • Georg Simmel: Der Streit, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Duncker & Humblot, Berlin, 1908 (1. Auflage), 186-255, online unter http://socio.ch/sim/soziologie/soz_4.htm
  • Wehling, Peter: Die Moderne als Sozialmythos. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien. Frankfurt a.M./New York: Campus, 1992.

Weiterführende Literatur:

 

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Sind Kompromisse bei der Energiewende denkbar?

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Der Soziologe Fabian Karsch plädiert am Beispiel der Energiewende dafür, die unterschiedlichen Positionen über Ausbauziele und regionale Zumutungen nicht als Schwäche, sondern als Stärke einer demokratischen Kultur des Streits zu interpretieren. In seiner Respons ergänzt Thies Clausen, dass das Austragen von Konflikten und ihre Beilegung ggf. durch Kompromisse also kein Skandalon ist, sondern ein Modus, komplexe Entscheidungen demokratisch zu treffen. Dementsprechend sind auch die Konflikte rund um die Implementierung der Energiewende keinesfalls ein Stigma. Was sie aber seien: eine Herausforderung für die energiepolitische Entscheidungsfindung. Was ist ihre Meinung zu diesem Thema?

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