Ist die Welt "in Ordnung"? - Plädoyer für eine "offene Wirklichkeit"

Leitartikel von Frank Vogelsang

Das Projekt der methodisch wissenschaftlichen Naturforschung ist menschheitsgeschichtlich einmalig. Es hat unser Bild von der Welt in den letzten 400 Jahren gravierend verändert. Der Wechsel etwa vom geozentrischen zum heliozentrischen Vorstellung unseres Planetensystems ist schon oft beschrieben worden, ebenso die weltanschaulichen Folgen. Friedrich Nietzsche hat das in einer schönen Formulierung zugespitzt: „So rollt seit Copernikus der Mensch aus dem Zentrum ins x.“

Wenn man die Änderungen der kosmologischen Vorstellungen mit den weiteren bahnbrechenden Erkenntnissen etwa eines Charles Darwin oder den aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen verbindet, so kann man mit Sigmund Freud von einer mehrfachen Kränkung des Menschen reden. Verstand sich der Mensch zuvor als Krone einer überschaubaren Schöpfung, in gewisser Weise in der Rolle eines Kronprinzen, so ist er nun zu so etwas wie einem Outcast geworden, ein „Zigeuner am Rande des Weltalls“, wie Jacques Monod es beschrieben hat.

Dies sind sicherlich ebenso sprechende wie stark konturierte Bilder, die eine Ahnung von dem geben sollen, was sich in den letzten 400 Jahren ereignet hat. Jedoch scheint mir diese sehr populäre Zuspitzung wenig hilfreich, um den Wandel durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse besser zu verstehen, um seine Folgen erkennbarer zu machen. Denn tatsächlich ist der spätmittelalterliche Mensch nicht stolz und behütet durch sein Leben gelaufen mit einer imaginären Prinzenkrone auf seinem Haupt, weil er zum Zentrum der Schöpfung gehört, noch ist unser Alltag in der Moderne allein durch Leere und Verzweiflung geprägt, weil wir den Sinn des Lebens in einem unendlichen Universum verloren haben. Wenn man kulturelle Epochengrenzen bezeichnen will, entsteht ein Pathos, das auf erstes Hören hin überzeugt, aber nicht gerade nachhaltig ist.

Will man das, was sich durch die naturwissenschaftliche Forschung gravierend verändert hat, herausarbeiten, wird man auf einen tiefgreifenden Wechsel von Ordnungen zu sprechen kommen müssen, ähnlich wie die Beschreibung der Episteme, die Foucault gegeben hat. Im Mittelalter hatte die Welt ohne Zweifel eine Ordnung. Diese Ordnung wurde in der Letztverantwortung von der Theologie beschrieben, denn die Ordnung war unmittelbar mit dem christlichen Glauben verknüpft. Seit der Spätantike hatte die christliche Theologie die kosmologischen Vorstellungen der griechischen Philosophieschulen, vor allem der akademischen in der Nachfolge Platons, aufgenommen und mit den biblischen Vorstellungen eines Schöpfergottes verbunden. Im Hochmittelalter, in der Folge der Neuentdeckung des Corpus Aristotelicum durch die Kontakte zu muslimischen Gelehrten, ist dieses Weltbild noch einmal gravierend verändert worden. Es war die Großtat von Thomas von Aquin, die Philosophie des Aristoteles nicht nur neu zu erschließen, sondern sie zugleich in eine für viele Jahrhunderte gültigen Form mit dem biblischen Schöpfungsgedanken zu verbinden. Kurzum, im Spätmittelalter gab es eine von theologischen Autoritäten bestätigte, vollständige Ordnung der Welt, die im Kern immer wieder auf Gott den Schöpfer zurück verwies. Entdeckte man durch Beobachtung oder ad hoc Experimente neue Zusammenhänge in der Welt, so wurden sie in diese Ordnung eingebaut, die ihren theologischen Rahmen nicht verlor.

Mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften änderte sich daran zunächst einmal nicht viel. Zwar waren sich die Protagonisten dieser neuen Denkungsart durchaus bewusst, dass sie eine völlig andere Sichtweise auf die Welt vertreten, aber in Bezug auf die theologische Qualifizierung blieben sie zunächst defensiv. Auch Galilei, auch Descartes, Keppler oder Newton verstanden ihre Forschungen, ihre neuen Methoden als Arbeit ad maiorem gloriam dei, zur größeren Ehre Gottes. Wie gravierend die Innovation der methodischen Forschung und der Mathematisierung der Physik auf das Weltbild wirkten, zeigte sich erst im 19. Jahrhundert. In der Mitte des 20. Jahrhunderts konstatierte dann der Theologe Bonhoeffer, dass man nun in einer Welt lebe, etsi deus non daretur, als ob es Gott nicht gäbe. Schließlich haben einige Entwicklungen in der Philosophie dazu geführt, die methodengestützte naturwissenschaftliche Forschung zu der alleinigen Erkenntnis von Welt zu erklären, sei es in der Variante eines Naturalismus, eines Physikalismus oder eines Szientismus. Es gilt hier eine Unterscheidung genau zu beachten: Es sind nicht die Naturwissenschaften selbst, die diesen überhöhten Anspruch erheben, es ist eine bestimmte, „naturalistisch“ zu nennende Philosophie, die versucht, alle empirischen Ergebnisse zu dem einen normativen Bild von der Welt zu erheben.

Diese Anschauungen sind auch heute noch eine maßgebliche kulturelle Herausforderung. In den populärwissenschaftlichen Darstellungen werden wieder und wieder Bilder reproduziert, die scheinbar einfach und für jeden nachvollziehbar die naturwissenschaftlichen Ergebnisse erläutern. Sie alle zusammen ergeben ein einigermaßen geschlossenes Bild von der Welt, physikalisch als Universum ausgewiesen. Gäbe man ihnen Recht, dann wäre die Welt in der Tat wiederum „in Ordnung“, dieses Mal in einer an die Naturwissenschaften angelehnten Ordnung. Folgt man den reduzierenden Programmen der naturalistischen Philosophien, dann ließe sich alles, was sich uns zeigt, zurückführen auf naturwissenschaftlich beschreibbare Vorgänge. Die entscheidende Formel dieses Denkens heißt: „nichts anderes als“. Was auch immer sich etwa im alltäglichen Leben zeigt, ist eigentlich „nichts anderes als“ das, was sich naturwissenschaftlich beschreiben lässt.  Gedanken etwa sind „nichts anderes als“ neuronale Aktivitäten.

Natürlich gab es und gibt es gegen derartige Darstellungen vielfachen Protest, insbesondere in den Geisteswissenschaften. Doch oft ist dieser Protest dadurch bestimmt, dass er „das Kind mit dem Bade ausschüttet“: So wird nicht nur der überhöhte Deutungsanspruch der naturalistischen Philosophien in Frage gestellt, sondern oft auch die Legitimität oder Relevanz naturwissenschaftlicher Forschung selbst. Dabei ist es doch unbezweifelbar, dass die naturwissenschaftliche Forschung eine menschheitsgeschichtlich bisher nicht vergleichbare Verbesserung unseres Weltverständnisses darstellt! Wenn man also sich gegen eine umfassende Geltung der Ordnungen, die die naturalistischen Philosophien anbieten, aussprechen will, muss man zugleich plausibel machen können, warum diese so erfolgreich sind.

Dieser Aufgabe möchte ich dadurch nachzukommen versuchen, dass ich statt von einer Welt von einer „offenen Wirklichkeit“ rede. Der Terminus „offene Wirklichkeit“ will zweierlei miteinander vereinen. Auf der einen Seite gibt es die Ordnungen, die die Naturwissenschaften ausweisen, auf der anderen Seite aber gibt es auch Dimensionen der Wirklichkeit, die geringer geordnet sind bis hin zu einer völligen Ordnungslosigkeit. Wie kann man diese Unterscheidung begründen, wie sollte es denkbar sein, dass es Erscheinungsweisen der Wirklichkeit gibt, die nicht durch naturwissenschaftliche Methoden zu erfassen sind? Das Argument, das hier zur Geltung kommt, hat eine große Nähe zum Selbstverständnis der naturwissenschaftlichen Forschung: Wir können nicht über die Wirklichkeit reden, nicht ohne zu berücksichtigen, wie unser Zugang zu ihr gestaltet ist. Das führt die Aufmerksamkeit zurück auf uns selbst. Und hier zeigt sich ein grundlegendes Problem, denn wir, die wir die Wirklichkeit erforschen wollen, sind tatsächlich immer auch schon Teil dieser zu erforschenden Wirklichkeit! Wir können uns auch keines „Instruments“, keiner Methode bedienen, die nicht ihrerseits schon zu dem gehören, was wir untersuchen wollen. Wir sind als leibliche Wesen „mit Haut und Haar“ Teil der zu untersuchenden Wirklichkeit. Das unterscheidet die Untersuchung der Wirklichkeit von der Untersuchung einer Kaffeetasse, die Kaffeetasse können wir leicht methodisch kontrolliert zu einem Objekt machen. Die Wirklichkeit dagegen können wir nicht vollständig zum Objekt machen, obwohl wir offenkundig die Fähigkeit haben, sie uns zumindest partiell zu objektivieren!

Diese verwickelte Situation wirft erhebliche methodische Probleme auf. Das Konzept der „offenen Wirklichkeit“ greift, um hier Lösungswege zu finden, auf die Phänomenologie zurück, eine philosophische Richtung, die dadurch geprägt ist, dass sie versucht, mit möglichst wenigen Zusatzannahmen auszukommen. Sie ist inspiriert durch Arbeiten der Philosophen Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels. Sie setzt nicht metaphysische Aussagen an den Anfang (Es gibt nichts als Materie! Oder: Die Welt besteht aus Geist und Materie!), sondern sie unterscheidet die Phänomene nach der Art wie sie sich zeigen, sie sammelt in gewisser Weise die unterschiedlichen Eindrücke. Prima facie lassen sich so drei sehr unterschiedliche Gruppen von Phänomenen finden: Wir finden etwa Gedanken („Die Sonne scheint!“), Gefühle (Mein Behagen über das Wetter) und Dinge (etwa der Sonnenschirm, unter dem ich sitze). Eine genauere Analyse kann zeigen, dass sich diese Phänomene bezüglich der Größen Raum und Zeit sehr unterschiedlich verhalten. Diese drei können wir leicht auseinander halten, denn sie zeigen ganz unterschiedliche Erscheinungsweisen der Wirklichkeit. Der phänomenologische Ansatz belässt die Unterschiede so weit als möglich. Hierdurch spannt sich eine Wirklichkeitsbeschreibung auf, die von Differenzen geprägt ist, sie zeigt eine „offene Wirklichkeit“. Die unterschiedlichen Zugänge zeigen nicht einfach ein und dasselbe aus unterschiedlicher Perspektive, sie lassen sich nicht zu dem Bild der einen geschlossenen Welt zusammen montieren. Weil wir immer schon beteiligt sind, haben wir keine Chance, die unterschiedlichen Zugänge von einem neutralen Ort aus miteinander zu verbinden, wir können uns die Wirklichkeit nicht „von außen“ ansehen. Deshalb müssen wir uns damit zufrieden geben, dass wir nicht das Große und Ganze in den Blick bekommen. Das ist ohne Zweifel eine fundamentale Einschränkung, die aber mit einer etwas anderen Begründung etwa auch von dem Bonner Philosophen Markus Gabriel herausgearbeitet worden ist.

Ein Verzicht auf metaphysische Ganzheitsannahmen („nichts anderes als“) führt aber auf der anderen Seite zu einer viel differenzierteren Sicht auf die Wirklichkeit. Sie stellt sich je nach Wirklichkeitszugang anders dar. Zu diesen Zugängen gehört einerseits die methodisch kontrollierte naturwissenschaftliche Forschung. Sie erforscht nicht irgendetwas, sie konstruiert nicht etwas, sondern sie zeigt Wirklichkeit. Es gibt ohne Zweifel Sonnenschirme. Ihre Funktion kann man mit physikalischen Methoden beschreiben: Das aufgespannte Tuch filtert einen Großteil der elektromagnetischen Strahlung des Sonnenlichtes, so dass ein Mensch unter dem Sonnenschirm keinen Sonnenbrand erleiden muss. Doch es gibt weiterhin Phänomene der Wirklichkeit, die sich nicht über physikalische Gesetze beschreiben lassen. Durchaus noch innerhalb von Ordnungen befindet sich das, was wir Gedanken nennen. Wenn ich die Aussage „Die Sonne scheint.“ aufstelle, kann ich nicht zugleich behaupten: „Es ist bewölkt und regnet“. Beide Aussagen stehen logisch in einem kontradiktorischen Verhältnis zueinander. Gedanken folgen also auch einer Ordnung, die nicht naturwissenschaftlichen Gesetzen folgt, aber den Gesetzen von Logik und der Syntax jener Sprache, in der sie ausgedrückt werden usw.

Interessant sind nun besonders jene Phänomene, die etwa mit unseren Gefühlen, mit atmosphärischen Wahrnehmungen in Zusammenhang stehen. Hier fällt zunächst einmal auf, dass diese Phänomene nicht mehr klar und eindeutig beschrieben werden können. Offenkundig lassen sich für diese Phänomene nicht mehr eindeutige Ordnungen finden, in die sie eingebunden sind. Nun ist es aber eine entscheidende Aussage des Konzepts der „offenen Wirklichkeit“, dass diese Phänomene deshalb nicht weniger wirklich sind, als die zuvor besprochenen, sie sind nur weniger geordnet. Das führt zu der Erkenntnis, dass wir offenkundig in einer Wirklichkeit leben, die ebenso durch Dimensionen starker Ordnungen ausgezeichnet ist wie durch Dimensionen geringer Ordnungen.

Wie aber sollen wir mit jenen Dimensionen geringerer Ordnung umgehen? Nun, tatsächlich tun wir es tagtäglich. Die Wirklichkeit geringerer Ordnungen hat der späte Husserl „Lebenswelt“ genannt. Wir leben immer schon in einer Welt, der uns nahen, uns umgebenden Welt, die wir nicht objektiv erfassen, sondern in der wir uns selbstverständlich bewegen. Das Konzept der „offenen Wirklichkeit“ legt nun aus den genannten Gründen nah, dass diese Welt auch nicht durch naturwissenschaftliche Methoden auf objektive Verhältnisse reduziert werden kann. Meine Vermutung ist: Kein Mensch könnte in einer solchen eingeschränkten Wirklichkeit leben, wie sie die metaphysischen Spekulationen des Naturalismus als die einzig wahre Wirklichkeit darstellen.

Nehmen wir als Gedankenexperiment einen Menschen mit einer konsequent naturalistischen Einstellung. Nun geschieht es, dass der Mensch sich in einen anderen Menschen verliebt. Wie drückt er das aus? Wenn er bei seinen metaphysischen Vorgaben bleibt, kann er nicht anders als dieses Erlebnis auf hormonelle Prozesse verbunden mit bestimmten neuronalen Erregungszuständen zurückzuführen. Da existiert also für ihn nicht ein Mensch, der ihm unendlich viel bedeutet, vielmehr ist da ein Mensch, mit dessen Gegenwart die genannten somatischen Prozesse korreliert sind. Oder: Dieser Mensch hört dann ein ihn mitreißendes Musikstück oder sieht ein ihn berührendes Kunstwerk. Wiederum kann und muss er unter den weltanschaulichen Vorgaben konsequenterweise alles auf somatische Prozesse zurückführen. Wenn nun dieser Mensch bestimmte Überzeugungen, bestimmte Wertvorstellungen hat, die ihm existentiell wichtig sind, dann muss er dann danach fragen, welcher evolutionäre Vorteil damit verbunden sein könnte. Diese Andeutungen sollen zeigen: Es scheint mir unmöglich, im eigenen Leben eine strenge naturalistische Position durchzuhalten. Wenn ein Naturalist mit Ernst und Überzeugung von seiner Liebe spricht, begeht er einen pragmatischen Selbstwiderspruch.

In dem Konzept der „offenen Wirklichkeit“ nun kann man die Errungenschaften der Naturwissenschaften mit der Einsicht verbinden, dass es Wirklichkeitsdimensionen geringerer Ordnung gibt, in die gerade auch jene Phänomene fallen, die wir aufgezählt haben. Dieses Konzept erweist sich dann als ertragreich, wenn die Differenzen der Phänomene, die es betont, uns weitergehende Einblicke ermöglichen. In dem Buch „Identität in einer offenen Wirklichkeit“ habe ich das Konzept an der Frage „Wer bin ich?“ erprobt. Die Frage nach der eigenen Identität ist von einer eigentümlichen Schwierigkeit, die durchaus der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ähnelt. Auf der einen Seite stellen wir mit ganzem Ernst die Frage, auf der anderen Seite kommen wir aber offenkundig immer schon von einer Antwort her, denn wir müssen doch immer schon wer sein, wenn wir mit Ernst nach uns fragen!

Wendet man die an der Analyse der Wirklichkeit erprobten Methoden an, dann zeigt sich, dass es unter den Bedingungen einer offenen Wirklichkeit nicht den einen Königsweg zur Identität gibt. Dagegen zeigen sich unterschiedliche Spuren, die je ihre eigenen Qualitäten, aber auch Grenzen haben. So zeigt sich die Identität unter den Ordnungen naturwissenschaftlicher Beschreibung als Identität eines Körpers mit einer spezifischen DNA, in einer bestimmten raumzeitlichen Ordnung. Hier gilt: Jeder Mensch ist anders, jeder Mensch ist ein Individuum. Aber in anderen Bereichen der Wirklichkeit, die nicht mehr so hoch geordnet sind, zeigt sich die Identität wiederum anders. Im historischen Kontext ist es uns nicht möglich, eine vollständige objektive Darstellung zu geben. Stattdessen beginnen wir zu erzählen, etwa von unserem Leben. So versuchen wir uns unserer Identität zu versichern. Diese Art der Identitätsfindung ist aber nun unter den Bedingungen der offenen Wirklichkeit nicht eine unvollkommene Beschreibung minderer Qualität einer eigentlich objektiv gegebenen Identität, sondern genuiner Zugang zu unserer Identität, die bei allem naturwissenschaftlichen Fortschritt nie besser gestaltet werden könnte. Wenn wir von anderen gefragt werden, wer wir sind, werden wir auch in ferner Zukunft anfangen zu erzählen und nicht nur Fakten aufzuzählen. Schließlich lässt sich eine dritte Weise der Identitätsfindung nachweisen, die auf fast gar nicht geordnete Dimensionen unserer Wirklichkeit weisen. Hier finden wir zu uns selbst, indem wir uns geradezu verlieren. Das kann in der Liebe erfahren werden, wo ich mich in einen anderen Menschen verliere und gerade dadurch zu mir selbst komme, das kann in Naturerfahrungen der Fall sein, in der ich in die umgebenden Natur aufgehe und gerade dadurch mich selbst erlebe, das kann bei bestimmten Musikerlebenissen der Fall sein, wenn mich die Musik unmittelbar berührt.

Im Fazit gilt: In einer so beschriebenen „offenen Wirklichkeit“  verzichtet man auf die Behauptung, Aussagen über das Ganze einer Welt oder das Ganze der Identität machen zu können, man gewinnt aber die Fähigkeit zur Unterscheidung. So kommen neben den naturwissenschaftlichen Erforschungen der Wirklichkeit andere Weisen der Erschließung von Wirklichkeit hinzu, die aufgrund ihrer geringen Ordnung keine Basis für umfassende Lehren bieten, die aber, wenn man für sie sensibel wird, die Möglichkeit geben, jeden Tag die Wirklichkeit neu zu erkunden.

Frank Vogelsang
Veröffentlicht im Dezember 2014

Sie lesen lieber aus einem Buch? Sie finden diesen Artikel auch in unserem Buch zu dieser Webseite, "Wissenschaft und die Frage nach Gott" (Bonn 3. Aufl. 2018). 18 Beiträge von renommierten Autorinnen und Autoren, darunter die Erzbischöfin von Schweden, führen in den Dialog mit der Wissenschaft angesichts der Gottesfrage ein.

    Frank Vogelsang, Offene Wirklichkeit. Ansatz eines phänomenologischen Realismus nach Merleau-Ponty, Freiburg, München, 3. Aufl. 2014

    Frank Vogelsang, Identität in einer offenen Wirklichkeit. Eine Spurensuche im Anschluss an Merleau-Ponty, Ricoeur und Waldenfels, Freiburg, München 2014.

    Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013.

    Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (übers. und eingeführt von R. Boehm)  Berlin 1966.

    Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbar und das Unsichtbare (hg. von C. Lefort, übers. von R. Giuliani, B. Waldenfels, München, 3. Aufl. 2004.

    Bernhard Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main 1987.

    Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt am Main 2002.

    Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 2006.

      Bildnachweis
      Bild des heliozentrischen Modells aus Nicolaus Copernicus' "De revolutionibus orbium coelestium" © Wikimedia Commons
      #53102927 Romanischer Kreuzgang © ferretcloud - Fotolia
      Galileo Galilei – Porträt von Justus Sustermans, 1636 @ Wikimedia commons
      #40553695 Der Philosoph © drsg98 - Fotolia
      Maurice Merleau-Ponty @ Wikimedia commons
      #53848073 - Geige mit Notenblatt © GIBLEHO - Fotolia
      #44343306 - Wer bin ich? © mucft - Fotolia

      Leben wir in einer "offenen Wirklichkeit"?

      Nehmen Sie Stellung zu Frank Vogelsangs Plädoyer

      Nach Frank Vogelsang verzichtet man in einer „offenen Wirklichkeit“  auf die Behauptung, Aussagen über das Ganze einer Welt oder das Ganze der Identität machen zu können, man gewinnt aber die Fähigkeit zur Unterscheidung. So kämen neben den naturwissenschaftlichen Erforschungen der Wirklichkeit andere Weisen der Erschließung von Wirklichkeit hinzu, die aufgrund ihrer geringen Ordnung keine Basis für umfassende Lehren bieten, die aber, wenn man für sie sensibel wird, die Möglichkeit geben, jeden Tag die Wirklichkeit neu zu erkunden. Wir fragen: Haben Sie diese Erfahrung gemacht? Stimmen Sie dem zu?

      Kommentare (1)

      • Bernd-Jürgen Dr.Stein
        Bernd-Jürgen Dr.Stein
        am 12.11.2015
        Hört sich alles sehr plausibel an.
        Ist vielleicht aber nur Resignation vor dem Komplexen.
        Sind komplexe Systeme – wie die Wirklichkeit – wirklich nicht reduzierbar ?
        Muss man den Gedanken an eine Reduktion aufgeben ?
        Ihr Hauptargument ist ja: wir müssen, weil wir Teil des Ganzen sind, und uns nicht außerhalb des Ganzen stellen können. Und unser Bewußtsein die Wirklichkeit filtert. Und weil es praktisch ist – bringt neue vielfältige Sichtweisen. Na gut, neue Sichtweisen sind kein Ersatz für eine gute Erklärung. Und Teil des Ganzen – gibt also doch ein Ganzes ?
        Ich finde Ihre Gedanken interessant, unser Bonner Philosoph vertritt ja die gleichen Thesen.
        Ich denke, dass Methode der Naturwissenschaften zwangsläufig zu einem beschränkten Weltbild führt. Ob Ihre Methode da Vorteile bietet, ist aber noch nicht raus. Wie kann ich mit Ihnen weiter diskutieren ?
        Dr.Stein

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