Die Konsequenzen der Quantentheorie

Leitartikel von John Polkinghorne

Die Entdeckung der Quantentheorie im ersten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts brachte die größte Revolution in unserem Verständnis der Welt der Physik seit den Entdeckungen von Isaak Newton mit sich. Die Newtonsche Welt der klassischen Physik war klar und determiniert; die Quantenwelt ist verschwommen und unvorhersehbar.

Unser Wissen um sie ist durch die Unschärferelation begrenzt. Wenn wir wissen, wo ein Elektron ist, können wir nicht wissen, wie es sich bewegt; wenn wir wissen, wie es sich bewegt, können wir nicht wissen, wo es ist. In dieser fremdartigen Welt verhält sich Licht manchmal wie ein Teilchen (eine kleine Kugel) und manchmal wie eine Welle (räumlich ausgebreitet und schwingend), ein vollkommen unverständliches Verhalten für unser Alltagsdenken.

Das Superpositionsprinzip

Diese kontraintuitiven Eigenschaften erklären sich formal aus dem sogenannten “Superpositionsprinzip”. In der Quantenphysik kann man auf wohldefinierte Weise Zustände überlagern, die die klassische Physik als vollkommen getrennt behandeln würde. Ein Elektron kann in einem Zustand sein, der eine Mischung aus ‚hier‘ und ‚dort‘ darstellt, in dem es keinen eindeutig definierten Ort hat. In Folge dessen gilt in der Quantenwelt eine Logik, welche sich von der aristotelischen Logik des Alltags unterscheidet. Letztere basiert auf dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten: es gibt keinen Zwischenzustand zwischen A und nicht-A. In der Quantenwelt gibt es viele solche Zwischendinge, Superpositionen von A (‚hier‘) und nicht-A (‚dort‘). Diese Tatsache ist mit dem Welle/Teilchen-Dualismus verbunden. Während es in der klassischen Physik (nach Erscheinung und Zahl) nur Zustände mit einer bestimmten Anzahl an Teilchen geben kann, existieren in der Quantenwelt Zustände mit einer unbestimmten Anzahl an Teilchen. Es zeigt sich, dass diese Zustände den Wellencharakter bekunden.

Wenn die Ortsbestimmung eines Teilchens bei einem Zustand durchgeführt wird, der eine Überlagerung von ‘hier’ und ‘dort’ ist, wird das Ergebnis manchmal ‘hier’, und manchmal ‘dort’ sein.

Interpretation der Phänomene

Die relativen Wahrscheinlichkeiten für da Auftreten dieser Ergebnisse können anhand der Proportionen bei der Überlagerung berechnet werden, aber man weiß nicht, welches spezielle Ergebnis bei einem vorliegenden Ereignis erzielt wird. Die Quantentheorie kann von ihrem Wesen her nur statistische Aussagen machen. Insofern existieren in der Welt der Quantenphysik stets intrinsische Unvorhersagbarkeiten. Diese Unvorhersagbarkeiten könnten entweder epistemologischer [erkenntnistheoretischer] oder ontologischer [seinsmäßiger] Natur sein. Im ersten Fall dürften sie in einer unvermeidbaren Unkenntnis von Faktoren (‚versteckte Variablen‘ genannt) begründet sein, welche eigentlich dazu dienen, genau  zu bestimmen, was geschieht. Im zweiten Fall wären sie in einer intrinsischen Unbestimmtheit der Natur begründet. Es zeigt sich, dass es Quanteninterpretationen von beiden Arten gibt, die genau dieselben empirischen Folgen haben. Die Wahl zwischen ihnen kann daher nicht auf rein naturwissenschaftlicher Basis getroffen werden, sondern ist eine Frage der metawissenschaftlichen Entscheidung. Fast alle Physiker akzeptieren die Unbestimmtheitsinterpretation, die von Niels Bohr stammt, weil sie die Unkenntnisinterpretation, die von David Bohm stammt, zwar für raffiniert, aber in ihrer mathematischen Form für zu gekünstelt halten, um überzeugend zu sein.

Es gibt keine allgemein anerkannte Erklärung dafür, was es eigentlich ist, das zu diesem speziellen Ergebnis bei einer vorliegenden Messung führt. Dieses Problem wird das ‘Messproblem’ genannt und verdeutlicht die Tatsache, dass die Wissenschaftler nicht vollständig nachvollziehen können, wie die klare und verlässliche Welt der Alltagserfahrungen aus ihrem verschwommenen und unvorhersehbaren Quantumsubstrat hervorgeht. Nach mehr als achtzig Jahren der Anwendung, die gekennzeichnet sind durch die bemerkenswerte Genauigkeit und den Erfolg der Quantentheorie in ihrem eigenen Bereich, bleibt es weiterhin problematisch, wie sich Quantenphysik und klassische Physik zu einem umfassenderen Verständnis des physikalischen Prozesses vereinigen lassen.

Konsequenzen für die Theologie

Eine Anzahl an Einsichten allgemeiner Relevanz und Bedeutung für die Theologie kann der Geschichte der Quantentheorie entnommen werden. Die erste ist, dass es keine universale Rationalität gibt. Die Aristotelische Logik gilt in der makroskopischen Welt, doch die Quantenlogik in der Quantenwelt. Die zweite ist, dass es auch keine universale Epistemologie gibt. Jeder Versuch, die Quantenwelt mit klassischer Klarheit zu erkennen, wird fehlschlagen. Diese Welt kann nur in Übereinstimmung mit ihrer Heisenbergschen Unschärfe erkannt werden. Diese Einsichten sollten die Theologie ermutigen, an dem festzuhalten, was sie als den notwendigen Charakter ihres Diskurses über Gott herausgefunden hat.

Die Welt der Physik hat sich als weniger mechanistisch erwiesen, als viele im Gefolge der deterministischen Entdeckungen der Newtonschen Physik zuerst angenommen hatten. Die Welt ist raffinierter und subtiler als es der Vergleich des Universums mit einem Uhrwerk nahelegt. Dass die Frage, ob wir die Prozesse der Quantenwelt als offene oder determinierte Prozesse verstehen müssen, nur metawissenschaftlich entschieden werden kann, zeigt, dass wir die wissenschaftlichen Erkenntnisse der modernen Physik ernst nehmen können, ohne dazu verdammt zu sein, uns selbst als Automaten zu denken oder Gott auf die Rolle eines externen Uhrmachers zu beschränken. Man kann begründet davon ausgehen, dass der Schöpfer innerhalb der offenen Struktur der geschaffenen Natur wirklichkeitsgestaltend gegenwärtig ist. Die moderne Naturwissenschaft propagiert keineswegs eine kausale Geschlossenheit der uns bekannten Welt, die dann von den Naturwissenschaften allein hinreichend beschrieben werden könnte.

Wenn Physik uns irgendetwas lehrt, dann sicherlich dies, dass die Wirklichkeit überraschend ist. Sie nötigt uns, Prozesse zu denken, die wir, hätte die Natur uns nicht auf sie gestoßen, uns niemals hätten vorstellen können. Folglich ist die natürliche Frage für einen Wissenschaftler betreffs einer Annahme innerhalb und jenseits der Naturwissenschaft nicht ‘Ist sie vernünftig?’, so als ob wir im Vornherein die Gestalt kennen würden, welche die Rationalität einnehmen müsste. Niemand hätte 1899 die Welle/Teilchen Dualität für eine rationale Möglichkeit gehalten. Stattdessen ist es die natürliche Frage eines Wissenschaftlers zu fragen ‘Was führt dich zu der Annahme, dass dies der Fall sein könnte?”, offen für das Unerwartete, jedoch Evidenz für das, was angenommen werden soll, verlangend. Ich glaube dass die Theologie sich ihrer wahrheitssuchenden Aufgabe in exakt derselben Weise annähern kann.

John Polkinghorne

Veröffentlicht im Juli 2012

Übersetzung: Andreas Losch

Wir bieten den Artikel auch im englischsprachigen Original an.

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John Polkinghorne, KBE, FRS, war Präsident und ist nun Fellow des Queens College, Cambridge. Einst Professor für Mathematische Physik an der Universität Cambridge wurde er dann (anglikanischer) Priester und Autor vieler Bücher über Naturwissenschaft und Religion, u.a. "Quantentheorie" (Stuttgart 2. Aufl. 2011) und "Theologie und Naturwissenschaften. Eine Einführung" (Gütersloh 2001). 2002 erhielt er den Templeton Preis und wurde Gründungspräsident International Society for Science and Religion (ISSR). Weitere Informationen.

Konsequenzen der Quantentheorie

Was folgt für die Theologie?

John Polkinghorne erklärt in seinem Leitartikel grundlegende Folgen der Quantentheorie für die Theologie. Was halten Sie von dieser metaphysischen Interpretation der physikalischen Grundlagen?

Kommentare (3)

  • Michael K. Eichbaum
    Michael K. Eichbaum
    am 22.08.2012
    Epistemologisch und ontologische Evidenzen erscheinen uns nur indirekt im
    Verhältnis zur Mikro - und Makrowelt.
    So sei "quantifiziert" das Teilchen/Elektron analog zum Neutronenstern und Pulsar aber die Welle die Perlenschnur der Teilchen im Y-Ray-Burst doch gar nicht so sehr aus ungleicher Art , doch nur energetischer.
    Die Frage der Singularität bleibt der Theologie erhalten und der Wert sowie die Frage nach dem Informationsgehalt
    der kosmischen Strahlen und der baryonischen Welt sollten wir dem Geist der Menscheit und dem heiligen Geist im Einklang ergründen und das mit allmächtiger Neugierde.
  • Jürgen Schnakenberg
    Jürgen Schnakenberg
    am 27.08.2012
    Etwas Neues von John Polkinghorne? Man war gespannt und wurde bitter enttäuscht: nichts Neues. Was Polkinghorne da über die Quantentheorie sagt, hat man so auch schon vor mehr als 50 Jahren gewusst. Solche Aussagen entstehen dadurch, dass man – wider besseres Wissen – die Quantentheorie mit klassischen Begriffen und Vorstellungen, eben mit der Alltagslogik, wie Polkinhorne das nennt, zu interpretieren versucht. Und dann müssen Unschärfe, Komplementarität und der Messprozess wie bei Pascual Jordan Mitte des letzten Jahrhunderts herhalten, um eine Offenheit der Welt für einen transzendenten Gott zu schaffen. Wann hört das endlich auf! Die Quantentheorie ist ohne Messprozess eine determinierende Theorie wie die Newtonsche Mechanik, und sie wird mit gewöhnlicher "mathematischer Alltagslogik" formuliert. Der Messprozess beschreibt nicht die Natur, die ohne ihn auskommt, sondern unsere begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit als makroskopische Wesen. Wir müssen als Beobachter einen hohen Preis bezahlen, nämlich die sogenannte "Dekohärenz" von Quantenzuständen, die einen Verlust von Quanteninformation bedeutet. Meine Ehrfurcht vor dem Namen Gottes verbietet es mir zu glauben, dass wir Ihm mit der Quantentheorie endlich auf die Schliche gekommen sind.
  • Reiner Groth
    Reiner Groth
    am 10.11.2012
    Die Wirklichkeit war schon immer überraschend, und zwar längst bevor es eine Quantenphysik gab. Dass Zeit irreversibel ist, kommt in den Newtonschen Formeln nicht zum Ausdruck – und doch ist es so. Durch immer komplexere Organisationsformen entsteht Neues in der Natur. Nicht erst Leben und Bewusstsein sind emergente Phänomene, bei denen Eigenschaften zu Tage treten, die es zuvor nie gegeben hat, sondern auch auf rein physikalischer Ebene gibt es spontane Neuorientierungen, vom Plasma bis zur Selbstassemblierung von Atomen und der Bildung von Festkörpern. Dass alles makroskopische Geschehen aus den ohnehin nicht bis ins unendlich Kleine rekonstruierbaren Anfangsbedingungen automatisch folgen solle, war noch nie eine empirische Feststellung, sondern eine metaphysische Überhöhung der Bewegungsgesetze der klassischen Mechanik, die sich im übrigen auch ganz unmaterialistisch interpretieren lassen, sofern die unhaltbare Verknüpfung von Masse und Materie aufgehoben wird. Wären die kleinsten „Einheiten“ in der Natur keine passiven isolierbaren Partikel, die mechanisch starren Naturgesetzen gehorchen, sondern aktive team-player, die spontan Interaktionsmuster erzeugen, die sich in großer Zahl wiederholen – analog den Schwarmbildungen im Tierreich - dann würden es nicht erstaunlich sein, dass auf der Makroebene
    eine naturgesetzliche Verlässlichkeit entsteht, aber in den Mikrowelten die Phänomene statistisch zu beschreiben sind. In Wirklichkeit herrscht nirgendwo eine andere Logik als die von Freiheit und Ordnung; auch die Elementarakteure sind determiniert durch ihre eigene Natur oder Beschaffenheit, zugleich aber mit Spontaneität „begabt“ - wie alles Geschaffene.

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