Wer sind wir, und wo geht die Reise hin?

Ronald Cole-Turner

Die Frage der menschlichen Evolution besteht aus vielen Einzelfragen. Es ist zum ersten eine wissenschaftliche Frage zu unserer Vergangenheit. Wann sind im anatomischen Sinne moderne Menschen zum ersten Mal in Erscheinung getreten? Was waren die Wege der menschlichen Ausbreitung über die Erde? Haben moderne Menschen sich mit anderen nahe verwandten Formen menschlichen Lebens wie den Neandertalern oder den kürzlich entdeckten „Denisovanern“ gekreuzt?

Solche wissenschaftliche Forschung bezieht Experten in vielen Disziplinen mit ein, von der Archäologie bis hin zur Genetik. In den letzten Jahren ist diese Forschung mit hoher Geschwindigkeit vorangeschritten und hat viele unerwartete Wendungen genommen. Mit jedem wissenschaftlichen Fortschritt entstehen neue philosophische und religiöse Fragen. Was unterscheidet uns von anderen Lebensformen? Sind wir biologisch „einzigartig“? Sagt die Evolution alles, was es über die menschliche Natur zu sagen gibt, oder erfordern der menschliche „Geist“ oder die menschliche „Seele“ Erklärungen jenseits der biologischen Wissenschaft?

Das Aufkommen von Kunst und Kultur

Ein Weg an diese Fragen heranzutreten ist das Studium des Aufkommens von Kunst und Kultur. Es scheint so, dass der moderne Mensch als eigene Art etwa vor 200.000 Jahren entstand.  Wie andere Formen der Menschheit, aus denen wir hervorgegangen sind, haben wir einfache Werkzeuge benutzt. Langsam im Laufe der Zeit ist die Technologie dieser frühen Menschen vorangeschritten. Ein wichtiger Zeitraum scheint vor etwa 100.000 Jahren gewesen zu sein, also etwa die Zeit, als die modernen Menschen aus Afrika auszuwandern begannen. Wir wissen, dass zur selben Zeit bereits Farbpigmente gemischt und Schnüre aus Muscheln geschaffen wurden.

Eine weitere Periode ziemlich intensiver technologischer und kultureller Entwicklung scheint vor etwa 40.000 bis 30.000 Jahren vonstatten gegangen zu sein. In diesem Zeitraum haben die modernen Menschen die Neandertaler in Europa und Westasien ersetzt. Die Höhlenkunst taucht zum ersten Mal auf. Die älteste heute bekannte Kunst besteht aus einfachen Kreisen in einer Höhle in Nordspanien, die etwa 40.000 Jahre zurückreichen. Dann erscheinen Handabdrücke, und schließlich die großartigen Zeichnungen der Chauvet Höhle in Südfrankreich, vor kurzem in der Dokumentation "The Cave of Forgotten Dreams" von Werner Herzog gezeigt. 

Einfache Knochenflöten lassen sich etwa  40.000 Jahre zurückdatieren.  Dies scheint die Zeit eines großen Wandels für die modernen Menschen gewesen zu sein, nicht nur aufgrund der kulturellen und technischen Fortschritte, sondern auch wegen des Verschwindens der Neandertaler.

Gegenwärtige Fortschritte in der Genetik

Dank der gegenwärtigen Fortschritte in der Genetik ist es nun für Wissenschaftler möglich,  das Genom der Neandertaler und andere Formen archaischer Menschen wie die gerade entdeckten Denisovaner in hoher Qualität zu rekonstruieren. Ihre DNA kann mit moderner menschlicher DNA verglichen werden. Das Ergebnis, das von den meisten Forschern auf diesem Gebiet akzeptiert wird, ist, dass die modernen Menschen sich mit Neandertalern und Denisovanern gekreuzt haben. Viele Menschen, die heute leben, tragen Erbgut mit sich, das in den menschlichen Genpool von diesen anderen menschlichen Formen eingegangen ist.

Diese Entdeckungen geschehen in hoher Geschwindigkeit, manchmal so schnell, dass es schwierig wird, sie in unser kollektives Verständnis als menschliche Art zu integrieren. Niemals zuvor hat uns das Wissen unserer Vergangenheit so rasch erreicht. Wie sehen wir uns selbst im Licht dieser Entdeckungen? Was bedeutet es angesichts der Befunde, Mensch zu sein? Schließen wir Neandertaler und Denisovaner in unsere Definition von Menschheit mit ein? Waren die Neandertaler in der Lage, eine ausgeklügelte Kultur, oder Sprache zu unterhalten, waren Sie sich ihrer selbst bewusst? Solche Fragen treiben neue Forschung voran, die nach der Kunst und Technologie der Neandertaler fragt.

Die Frage der menschlichen Evolution

Aber die Frage der menschlichen Evolution ist nicht nur eine Frage der Vergangenheit oder nur der Gegenwart. Es ist auch eine Zukunftsfrage. Wir schauen zurück, um uns zu fragen: Wo kommen wir her? Wir betrachten uns heute und fragen uns: Wer sind wir? Wie lässt sich unsere Verschiedenheit verstehen? Wir schauen jedoch auch vorwärts und fragen: Wo geht die Reise hin?

Im Rückblick erkennen wir den langsamen doch außergewöhnlichen Aufstieg der menschlichen Kultur. Wir erkennen, wie uns die Technologie verändert hat. Vor nicht allzu langer Zeit lebten wir als affenartige Wesen in einfachen Gruppen zusammen. Jetzt sind wir Städter, unser Geist ist mit Maschinen verschmolzen und unser Leben ist mit Technologie gesättigt.

Manche nehmen an, dass die menschliche biologische Entwicklung an ein Ende gekommen ist, die menschliche technologische Entwicklung jedoch gerade erst begonnen hat. In den 1950er Jahren zum Beispiel haben sowohl Teilhard de Chardin als auch Julian Huxley angenommen, dass die Technologie die menschliche Entwicklung auf eine völlig neue Stufe führt und uns in eine neue Art verwandelt. Heutzutage werden ihre Gedanken von den "Transhumanisten" aufgenommen, die für die freie Entwicklung und den unbeschränkten Zugang zu diesen Technologien eintreten. Sie sehen Technologie als eine Möglichkeit an, unsere biologischen Grenzen zu überwinden. Können wir das Gehirn schlauer, den Körper stärker, unsere Leben länger machen? Wenn das möglich ist, warum sollte man dem widersprechen? Niemand, so sagen sie, sollte dem Gedanken entgegenstehen, dass Menschen besser werden können als sie gegenwärtig sind, dass wir uns sogar selbst  bis zu dem Punkt verbessern können, dass wir mehr als bloß Menschen sind.

Wo geht die Reise hin?

Viele Menschen treten jedoch dennoch dem entgegen, was sie als Versuche ansehen, über die Evolution hinauszugehen. Es habe immer zu viele negative Konsequenzen oder Nebeneffekte. Andere befürchten, dass Verbesserungen des Menschen in der Tat möglich sein werden. Wir könnten zum Beispiel herausfinden, wie man nicht nur stärker, sondern tatsächlich gesünder wird. Ihre Sorge ist weniger, dass wir die Verbesserung nicht erreichen, sondern vielmehr dass wir Erfolg darin haben, stärker oder schlauer oder langlebiger zu werden. Was dann?

Dies sind natürlich Fragen, die zuerst an Wissenschaft und Technologie gestellt werden müssen. Ist etwas davon überhaupt möglich? Doch es sind auch Fragen für Philosophie, Ethik und Theologie. Ist irgendetwas davon richtig oder gut? Handelt es sich um den Versuch, „Gott zu spielen“, eine letzte Trotzhandlung? Oder handelt es sich um die Weise, auf die Gott schafft, und selbst heute damit fortfährt, durch die Mittel des menschlichen Wissens und der Technologie? Sollten Menschen Technologien schaffen, die Verbesserungen des Menschen möglich machen?

Heute werden wir allzu rasch von neuen Technologien mitgerissen, von denen manche eindeutig in Richtung auf eine Verbesserung des Menschen weisen. Fast täglich hören wir von Fortschritten in der Zellbiologie, Nanotechnologie, synthetischen Biologie und Informationstechnologie. Während diese sich auf einander zu entwickeln und verschmelzen, werden sie zunehmend mächtige Werkzeuge, um die Natur einschließlich der menschlichen Natur neu zu schaffen.

Zweierlei geschieht gleichzeitig. Erstens hören wir rascher als je mehr über unsere Vergangenheit. Zweitens erfinden wir immer schneller Werkzeuge zur menschlichen Transformation. Es ist, als würden wir uns in einer Geschwindigkeit wiederentdecken und von neuem erfinden, die zu hoch ist, um sie noch zu verstehen.

Wenigstens ist es unsere Herausforderung, unseres Augenblicks in der Geschichte bewusster zu werden. Es ist so als lebten wir in dieser intensiven Periode vor 40.000 bis 30.000 Jahren, aber mit einem Entwicklungstempo, das vielleicht millionenfach erhöht, wenn nicht noch schneller ist. In der ganzen zweihundertausendjährigen Geschichte  unserer Menschheit ist dies der Moment mit den größten Veränderungen und der gefährlichste Moment zugleich. Wer sind wir, und wo geht die Reise hin?

Ron Cole-Turner
Veröffentlicht im Januar 2013

(Übersetzung: Andreas Losch, bearbeitet am 28.05.2016)

Diesen Leitartikel bieten wir auch im englischen Original an.

Sie lesen lieber aus einem Buch? Sie finden diesen Artikel auch in unserem Buch zu dieser Webseite, "Wissenschaft und die Frage nach Gott" (Bonn 3. Aufl. 2018). 18 Beiträge von renommierten Autorinnen und Autoren, darunter die Erzbischöfin von Schweden, führen in den Dialog mit der Wissenschaft angesichts der Gottesfrage ein.

Der Autor ist Professor für Theologie und Ethik am Pittsburgh Theological Seminary (USA), Pastor der United Church of Christ  (UCC) und Vice President der International Society for Science and Religion (ISSR). Er is Autor von Transhumanism and Transcendence: Christian Hope in an Age of Technological Advancement,The New Genesis: Theology and the Genetic Revolution, der Co-Autor (zusammen mit Brent Waters) von Pastoral Genetics: Theology and Care at the Beginning of Life, der Herausgeber von Human Cloning: Religious Responses und von Beyond Cloning: Religion and the Remaking of Humanity, der Mitherausgeber von God and the Embryo: Religious Voices on Stem Cells and Cloning, Herausgeber von Design and Destiny: Jewish and Christian Perspectives on Human Germline Modification, und Herausgeber von Technology and Transcendence (im Druck.)

Picture Credits
Hands touching  #22626567 © Andrea Danti - fotolia.com
Reconstruction of Neandertaler at Neanderthal Museum @ Wikimedia Commons
The Panel of Hands, El Castillo Cave, Spain. Image courtesy of Pedro Saura.
Photo courtesy of The Scripps Research Institute
#42638169 © Sergey Nivens - fotolia.com

Wer sind wir und wo geht die Reise hin?

Ihre Meinung zu den von Ron Cole-Turner angeschnittenen Fragen der menschlichen Evolution

Wer sind wir und wo geht die Reise hin? fragt Ron Cole-Turner in seinem Leitartikel, mit dem er seinen Blog www.enhancingtheology.org vorstellt. Wenn Sie (auf Englisch) persönlich mit ihm diskutieren wollen, besuchen Sie bitte seinen Blog. Der Thread hier ist zur deutschsprachigen Diskussion seines Leitartikels gedacht.

Kommentare (1)

  • Heinz-Herrmann Peitz
    Heinz-Herrmann Peitz
    am 04.04.2013
    Cole-Turners Ausführungen stehen in einer interessanten Tradition. Schon 1966 prognostizierte Karl Rahner: "In dieser Welt wird der Mensch in einem früher ungeahnten und unpraktikablen Ausmaß der Mensch sein, der ... sich selbst manipuliert. Er muss der operable Mensch sein wollen, wenn auch Ausmaß und gerechte Weise dieser Selbstmanipulation noch weithin im dunkel sind." Auch ahnte er damals, dass das "Tempo der Erfolge" ansteigen wird - ein Befund, den Cole-Turner heute bestätigt und problematisiert. 2000 greift Sloterdijk ausdrücklich Rahners Metapher vom operablen Menschen auf, allerdings ohne dessen Vorbehalte. Denn Rahner blieb immer auch "der Mahner, Sünde, Endlichkeit und Tod nicht zu vernachlässigen, wenn es um das freie Handeln des Menschen und um seine Zukunft geht" (Dietmar Mieth 2012).

Neuen Kommentar schreiben