Ein wilder Gott

Leitartikel von Thomas J. Oord

Wie sollen wir über Gottes Gegenwart in der Schöpfung denken? Wie über jemanden, der auf einem Turm steht und auf unbedeutende Kreaturen im Fluss der Geschichte hinabsieht? Manche Theologen sprechen von einem Gott, der "weit über" uns oder überweltlich ist. Ich dagegen betone Gottes Allgegenwart und Allzeitlichkeit. Die Perspektive Gottes fühlt die Schöpfung eher als von oben auf sie zu schauen. Wenn man, so wie ich, der Meinung ist, dass Gottes Werk immer Ausdruck von Liebe ist und deshalb immer ohne kontrollierenden Herrschaftsanspruch, dann könnte man denken, dass die Gesundheit von Gottes Ökologie der Liebe zum Teil davon abhängt, wie wir und andere Organismen auf Gottes Einfluss reagieren.

Mount Whitney

Ich denke oft über Gott nach, wenn ich die Natur von ihrer wilderen Seite erlebe. Ich bin ein leidenschaftlicher Wanderer und Rucksackreisender. Und ich bin ein Theologe, der glaubt, dass Gott allgegenwärtig und in der Schöpfung aktiv ist. Über Gott nachzudenken ist für mich natürlich!

Dieses Foto habe ich auf dem Gipfel von Mount Whitney gemacht, dem höchsten Berg der zusammenhängenden USA. Mit einer Erhebung von 14,505 Fuß (4,421m) liegt der Berg am Südende der Sierra Nevada Mountains in Kalifornien.

Ich wanderte auf den Gipfel an einem Nachmittag als Abschluss einer mehrwöchigen Wanderreise auf dem mehr als 200 Meilen langen John Muir Trail. Ich wollte Fotos sowohl von Sonnenuntergang wie auch vom Sonnenaufgang machen an einem Ort, der mir wie der Gipfel der Welt vorkam.

Das Licht verhält sich komisch in großer Höhe. Zumindest ist mir das unbekannt. Meine Fotografie am Abend hob die gelben Felsen zu meinen Füssen hervor, wie auf diesem Foto zu sehen ist. Am Horizont konnte ich einen dunkleren blauen Himmel sehen.

Wenn man Vögel oder die Dächer von Flugzeugen weit unter sich sieht, löst das seltsame Empfindungen aus. Man blickt auf das Leben aus einer ungewöhnlichen Perspektive, wenn man über Bergklippen hinwegsieht. Und diese ungewöhnliche Perspektive lässt mich über Gottes Perspektive auf die Existenz nachdenken.

 

Gott handelt in Raum und Zeit

Für manche Theologen ist Gottes Perspektive vergleichbar mit derjenigen, die wir einnehmen, wenn wir auf einen Berggipfel steigen. Sie sprechen über Gott als "weit über uns" oder überweltlich. Manche lassen sich wortreich darüber aus, wie unbedeutend wir sein müssen, wenn uns Gott aus dieser unendlichen Distanz betrachtet.

Johannes Calvin verglich Gottes Perspektive mit der Perspektive, die man von einem Kirchturm aus hat. Kirchturmaugen sehen alles auf einen Blick. Wenn eine Parade durch die Straßen zieht, erlaubt einem der Standpunkt von weit oben den Blick auf den Anfang und das Ende der Parade.  

Indem er diese Analogie in Zusammenhang mit Gott und Zeit gebrauchte, glaubte Calvin, dass Gott alle Geschichte in einem ewigen Jetzt überblicke. Dies ist der Vorteil göttlicher Unendlichkeit. Für Calvin und viele andere Theologen bedeutet Gottes unendliche Perspektive göttliche Zeitlosigkeit. Gott steht „außerhalb der Zeit“, wie man umgangssprachlich sagt.

Wenn ich jedoch über Gottes Perspektive nachdenke, denke ich nicht über einen Gott außerhalb von Zeit und Raum nach. Ich denke auch nicht an einen Gott, der auf unbedeutende Kreaturen im Fluss der Geschichte hinabsieht.

Stattdessen denke ich über Gottes Allgegenwart und Allzeitlichkeit nach. Die göttliche Perspektive fühlt die gesamte Schöpfung eher, als auf sie hinabzusehen. Für mich handelt Gott mit uns in Zeit und Raum. Diese Sicht von Gott lässt Liebe und Verehrung eher in mir entstehen als ein Gott jenseits und außerhalb der Zeit.

Auf dem Gipfel von Mount Whitney zu stehen erinnert mich daran, dass der ideale Beobachter sowohl eine Mikro- wie eine Makroperspektive innehat. Während Gott die Zeit von Moment zu Moment wahrnimmt und sich mit jedem existierenden Wesen verbindet, prüft Gott auch immerwährend, was es für allumfassendes Wohlergehen braucht, und nicht nur, was einem Individuum guttut.

Gottes Fähigkeit, sowohl das gesamte Bild wie auch die winzigen Details betrachten zu können, ist Teil eines perfekten Wesens, das sich der Verehrung würdig erweist.

Pando

Hier ist eine berühmte Baumgruppe abgebildet, die man Pando nennt. Der Name ist lateinisch für sich ausbreiten, und dieser Hain ist eine einzelne Kolonie Amerikanischer Espen in Utah (USA). Dieser Hain ist ein einziger lebender Organismus mit einem massiven Wurzelsystem. Tatsächlich ist Pando mit 6 Millionen Kilogramm der schwerste bekannte Organismus auf dem Planeten!

Meine Frau und ich sind hierher zu dieser abgelegenen und unscheinbaren Baumgruppe gefahren, um die Espen in ihren Herbstfarben zu sehen. Wir kamen allerdings ein wenig spät, weil die meisten Blätter bereits ihre Farbe gewechselt und zu Boden gefallen waren. Wie das Foto zeigt, ist die Erde über den Wurzeln von Pando zur Leinwand für diejenigen Farben geworden, die wir suchten.

Pandos Wurzelsystem lebt seit mindestens 80’000 Jahren, obwohl manche es für noch viel älter halten. Veränderungen des Klimas beeinflussen seine Überlebensfähigkeit. Wissenschaftler führen weitreichende Arbeiten durch, um herauszufinden, was uns Pando über den Klimawandel mitteilt.

Die Arbeit von Ökologen haben mich ursprünglich auf Pando aufmerksam gemacht. Ein Baumhain, der durch ein gemeinsames Wurzelsystem erhalten wird, lehrt uns auf symbolische Weise die Zusammenhänge und die Verbundenheit des Lebens.

Ich habe mich seither einer Gruppe namens Toward Ecological Civilization angeschlossen. Sie betrachtet die verschiedenen Lebensräume und wie wir Änderungen einleiten oder Ökosysteme schützen können, um das Ganze positiv zu beeinflussen. Toward Ecological Civilization ist ein „think und action tank“, der mit Experten und Fachleuten arbeitet, um eine umfassende roadmap in Richtung Nachhaltigkeit zu entwickeln.

 

Gottes Ökologie der Liebe

Ich sehe einen Zusammenhang zwischen dem, was Christen das Königreich Gottes nennen, und der Ökologie von Pando. Der christliche Ausdruck in altem Griechisch lautet basileia tou theou. Viele zeitgenössische Theologen sind aber der Meinung, dass „Königreich“ den weitreichenden Einfluss des Geistes in der Welt nicht adäquat zum Ausdruck bringt. Manche ersetzen Königreich durch Ökologie. Sie sind der Meinung, dass Jesus Christus auf die Ökologie Gottes hinweist oder sie ankündigt. Oder, wie ich sie gerne nenne, Gottes Ökologie der Liebe.

Ich sehe Vor- und Nachteile im Gebrauch von „Ökologie“, wenn von Gottes Werk in der Welt die Rede ist. Ein Vorteil ist, dass „Ökologie“ darauf hinweist, dass alle Lebewesen miteinander und mit Gott verbunden sind. Ich mag relationale Sprache, weil sie auf kausale Zusammenhänge der Existenz hinweist. Was ein Organismus tut, beeinflusst einen anderen; was Gott tut, beeinflusst alle Organismen; was alle Organismen tun, beeinflusst Gott. (Ein solcher Standpunkt lehnt übrigens die Idee ab, dass Gott in allen Belangen unempfänglich ist.)

Das Schicksal von Pando mit seinem alten und verzweigten Wurzelsystem und seinen ökologischen Zusammenhängen ist sehr lehrreich, wenn man über Gottes Werk nachdenkt. Wenn man, so wie ich, der Meinung ist, dass Gottes Werk immer voller Liebe ist und deshalb immer ohne kontrollierenden Herrschaftsanspruch, dann könnte man denken, dass die Gesundheit von Gottes Ökologie der Liebe zum Teil davon abhängt, wie wir und andere Organismen auf Gottes Einfluss reagieren. Mit anderen Worten: Was wir tun, zählt wirklich!

Alle jene, die besonderen Nachdruck auf Gottes Souveränität legen, schrecken davor zurück, dass Gottes Werk zunichte gemacht werden könnte. Sie bezweifeln, dass unser Handeln irgendeinen endgültigen Unterschied für Gott macht, dessen Wille in jedem Falle die Oberhand behält. Mein Vergleich mit der Ökologie, der die Handlungsmacht in die Hände von Akteuren neben Gott legt, wird niemanden überzeugen, der glaubt, dass Gott die Schöpfung kontrolliert.

Aber denjenigen, die das Böse auf der Welt als etwas betrachten, das Gott nicht will und nicht verhindern kann, wird der Ökologie-Vergleich attraktiver erscheinen. Der Gott, der nicht kontrollieren kann, ist nicht schuldig für all das Böse, das wir sehen. Und dieser Gott braucht unsere positive Mitarbeit, wenn die Ökologie der Liebe aufblühen soll.

Wenn ich Fotos von der Schöpfung mache, ob von Pando oder von etwas anderem, dann sehe ich den Wert in dem Gedanken, dass die basileia tou theou eine Ökologie der Liebe ohne Herrschaftsanspruch ist!

Der Spatz

Als Fotograf habe ich mich darauf spezialisiert, das Dramatische zu sehen. Für gewöhnlich visualisiere ich eine Fotokomposition, bevor ich meine realen Augen gebrauche. Fotografen nennen dies manchmal Prävisualisation, ein Ausdruck, der vom berühmten Naturfotografen Ansel Adams populär gemacht worden ist.

Wenn ich die Natur fotografiere, versuche ich oft, etwas Ungewöhnliches oder Schönes einzufangen. Gleichzeitig versuche ich Kunst herzustellen, die ich selbst mag. Für dramatische Naturfotos reise in an wilde Orte, zu weitreichenden Panoramen, oder suche einzigartige Kreaturen. Um einen Satz der Grundstückmakler zu stehlen: Beim Liegenschaftskauf lauten die drei ersten Regeln Standort, Standort und Standort!

Spatzentheologie

Ein Gang durch die Straßen, Alleen und Parks von Chicago ließ mich kürzlich erneut über Gott und die Natur nachdenken. Ich begann, über die göttliche Gegenwart in allem Gewöhnlichen und Bekannten nachzusinnen. Und ich nannte diesen Zugang zu Fotografie, Gott und Natur die Spatzentheologie.

Jesu Worte sind die Inspiration für die Spatzentheologie. Vor zweitausend Jahren fragte Jesus seine Zuhörer: “Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Fünfer?“ Er lässt dieser rhetorischen Frage diese Worte folgen: „Und nicht einer von ihnen fällt zu Boden, ohne dass euer Vater bei ihm ist.“ (Mt 10,29).

Bibelforscher übersetzen den zweiten Satz des Textes auf verschiedene Weise. Einige sprechen vom Vater, der vom Fall des Spatzen weiss, andere vom Willen des Vaters im Zusammenhang mit Spatzen, und wieder andere sagen einfach, dass nicht ein Spatz fällt „ohne euren Vater.“

Diese Übersetzungen suggerieren auf subtile Weise eine spezifische Sicht von Gottes Beziehung zu Spatzen. Ich vermute, dass die subtilen Unterschiede unsere Art und Weise beeinflussen, wie wir über Gottes Beziehung zum Alltäglichen generell und zu gewöhnlichen Kreaturen im Speziellen nachdenken. Daraus klar herauszuarbeiten, was dies für göttliches Handeln bedeutet, um nicht zu sagen für die biblische Hermeneutik, würde einen weiteren Essay und noch eher ein ganzes Buch nötig machen!

Meine Kernaussage hier ist diese: die meisten Menschen, die an Gott glauben, denken, dass Gott in der gesamten Schöpfung präsent ist. Gottes Offenbarung ist nicht nur im Immensen und im Dramatischen, und auch nicht im Winzigen und Putzigen. Gott ist präsent und kümmert sich um alle.

 

Gott ist jeder Kreatur gegenwärtig

Spatzentheologie erinnert uns an Gottes Handeln im Bekannten und Alltäglichen. Gewöhnliche Kreaturen und Orte – einschließlich diejenigen in der Stadt – bezeugen Gottes Kreativität und Sorge.

Das obige Foto machte ich, nachdem ich Chicago hinter mir gelassen hatte. Als ich eines Abends an einem Fluss in Idaho stand, hörte ich in meiner Nähe diesen Vogel zwitschern. Der Gesang hielt ein paar Minuten an, bevor ich meine Aufmerksamkeit dem Vogel zuwandte. Ich war überrascht, wie freundlich er zu sein schien. Ich positionierte meine Kamera mit einer 50mm-Linse nicht weiter als sechs Fuß weit weg von ihm, um diese Nahaufnahme von ihm zu schießen.

Etwas Gewöhnliches und Alltägliches – ein zwitschernder, Samen essender Spatz – wurde ungewöhnlich und nicht alltäglich, als ich meine Aufmerksamkeit und meine Linse ausrichtete für eine Nahaufnahme dieses sonst so nervösen Vogels.

Seit ich dieses Foto gemacht habe, habe ich versucht, mir anzugewöhnen, auf das Normale, Alltägliche zu achten, auf das Gewöhnliche. Ich will über die Gegenwart des Geistes in der gesamten Schöpfung nachsinnen. Denn wenn das, was die meisten Theologen für wahr halten, stimmt, dann ist das Göttliche präsent in allen Kreaturen: großen, kleinen, und mittleren.

Idaho Wildnis

Wenn ich meine Fotos öffentlich ausstelle, werde ich manchmal gefragt, welches mein Lieblingsbild sei. Ich habe tausende Fotos, denen ich hohe Qualität zuteile, also ist es unmöglich, die Frage richtig zu beantworten. Es ist, als ob man einen Lehrer fragt, welcher sein Lieblingsschüler gewesen sei in seinen 40 Jahren Lehrtätigkeit!

Um die Vertracktheit der Frage noch zu vergrößern, legen meine Fotografievorlesungen den Schwerpunkt oft auf die Theologie. Mit dem Finger auf mein Lieblingsfoto zu zeigen, sagt auf unterschwellige Weise auch etwas über meine Sicht auf Gott!

Ich habe angefangen, die Frage: “Welches ist dein Lieblingsfoto?” zu beantworten, indem ich auf eine Kategorie von Fotos deute, und nicht nur auf ein einzelnes. Das obige Foto fällt in diese Kategorie.

Ich habe es spät an einem Herbsttag in einer wilden Region von Idaho (USA) geschossen. Nebel bedeckte an jenem Morgen unablässig die Landschaft, und dieses Foto wurde gemacht, als die Sonne begann durchzuscheinen.

Ich liebe die blattlosen Bäume auf diesem Foto: tatsächlich scheine ich Bäume eher wahrzunehmen, wenn sie kahl sind als in voller Blüte. Die Äste dieser Bäume sind nicht symmetrisch oder parallel, um ein gleichmäßiges Skelett zu formen. Die Büsche und das Unterholz im Bildvordergrund sind ebenfalls chaotisch.

Zwischen den Baumskeletten befinden sich seltsam platzierte Findlinge. Diese Felsen kamen vor mehreren zehntausend Jahren auf diesen Platz zu liegen, während einer riesigen Flut in Idaho. Ihre abgerundete Gestalt erinnert an die abgerundete Gestalt von Kieselsteinen in einem Strom. Aber die Formierung, die diese Findlinge durchmachten, kamen von einem Wasser, das sehr viel mächtiger war als ein gewöhnlicher Strom.

Ich mag auch die unterschiedlichen Lichtstärken in diesem Foto. Dunkelheit herrscht vor, aber Licht dringt durch den Nebel, und darüber können wir einen dunstfreien Himmel sehen. Lichtstrahlen erreichen den Grund um die Felsen und Bäume im Bild und geben uns genug Kontrast, um Formen erkennen zu können.

Ein wilder Gott

All diese Aspekte des Bildes lassen in mir eine starke Ahnung von Wildheit hochkommen. Die Landschaft existiert zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Tag und Nacht, zwischen Wachstum und Niedergang, Leben und Tod.

Gottes Werk in der Welt ist wild. Gott ist ungezähmt.

Wenn ich an einen wilden Gott denke, erinnere ich mich an C.S. Lewis und seine Chroniken von Narnia. Der Charakter Peter in der Geschichte beschreibt Aslan – die Gottesfigur im Buch – mit den Worten: “Er ist nicht sicher, aber er ist gut.“

Der berühmte amerikanische Naturalist John Muir wurde bekannt durch seinen Spruch: “In Gottes Wildheit liegt die Hoffnung der Welt.” Ich stimme zu!

Weniger bekannt ist eine spirituelle Erfahrung, die Muir beschreibt, als er im heutigen Yosemite National Park in Kalifornien (USA) unterwegs war. Muir schreibt: “Der Ort scheint heilig, und man hofft, hier Gott zu sehen. Nach Einbruch der Dunkelheit, als das Camp ruhig dalag, tastete ich meinen Weg zurück zu jenem Altarfindling und verbrachte darauf die Nacht – über dem Wasser, unter den Blätter und Sternen –, als alles noch beeindruckender war als bei Tage, die Fälle scheinen gedämpft weiß und singen das alte Liebeslied der Natur mit feierlichen Enthusiasmus, während die Sterne, die durch die Blätterkrone blinzeln, in das Lied des weißen Wassers einzustimmen schienen… Gott sei Dank für dieses unsterbliche Geschenk.“ [1]

Ich glaube, meine Lieblingsfotos weisen mir den Weg zur Heiligkeit, die man teils begreift und teils nicht begreift, und ziehen mich zu etwas Größerem hin.

Mount Rainier

Wenn ich den Leuten erzähle, dass ich mich mit „theologischer Fotografie“ beschäftige, fragen sie mich mit einem Grinsen: „Du schießt Fotos von Gott?!“

Natürlich kann kein Foto Gott abbilden. Wir könnten behaupten, dass ein gutes Foto uns mehr Wahres über Gott erzählt als eine große Zahl Wörter, aber ich weiss nicht, wie man diese Behauptung beweisen könnte.

Viele Glaubensrichtungen bestehen darauf, dass Gott keine Form hat. Manche halten Zeichnungen von Gott sogar für Blasphemie! Physische Objekte werden zu Idolen, behaupten viele theistische Traditionen, wenn wir diese Objekte buchstäblich für göttlich halten. Während religiöse Ikonen unsere Gedanken in Richtung Gott lenken mögen, sind sie keine Gottheiten.

Die christliche Tradition weist oft auf die Worte des Apostels Johannes hin: “Niemand hat Gott je geschaut” (1 Joh 4,12). Dies steht im Widerspruch zu vielen anderen Bibelstellen, die uns vom Sehen von Gottes Rückseite erzählen, davon, mit Gott im Garten zu wandeln etc. Aber die meisten christlichen Theologen haben behauptet, dass diese Hinweise auf das Sehen von Gottes Leib als Metaphern zu nehmen sind und nicht wortwörtlich.

Meine Mormonenfreunde denken anders über diesen Punkt als der christliche Mainstream. Aus ihrer Sicht hat Gott einen eigentlichen physischen Körper. Und Gott ist männlich. So wie ich das sehe, ist es schwierig, die göttliche Allgegenwart zu verstehen, wenn Gott einen verorteten physischen Körper besitzt.

Ich schließe mich anderen Theologen an, wenn ich denke, dass Gott ein universeller Geist ohne lokalisierbaren Körper ist. Jesus drückte es einfach aus: “Gott ist Geist ” (Joh 4,24). Theologen sagen oft, dass Gott unkörperlich sei. Oder sie sagen, Gott sei immateriell. Weil Gott ein universeller Geist ist, hat Gott keine Form, keine Größe, kein Gewicht wie wir und andere Kreaturen.

Die Autoren hebräischer und christlicher Schriften benutzen verschiedene Ausdrücke, um den „Stoff“ zu beschreiben, aus dem Gott besteht. Manche vergleichen Gott mit Atem, mit einem Verstand, mit Rauch, oder mit dem Wind. Nichts davon beinhaltet einen göttlichen Körper.

In jüngeren Jahrhunderten haben Gläubige Gott mit dem Äther, mit der Schwerkraft, mit der Seele, mit dem Licht oder mit Sauerstoff verglichen. Diese Worte beschreiben Gott als Beeinflusser der Schöpfer ohne eine verortete physische Form. Während die meisten Christen glauben, dass Gott als Geist besonders in Jesus verkörpert war, glauben sie nicht, dass Gott grundsätzlich als lokalisierbare, physische Figur existiert.

Wenn ich Bilder in der Natur mache, ziehen mich Bilder von Rauch, Dunst, Wind und Nebel an als Repräsentationen des unkörperlichen Gottes. Natürlich sind diese Fotos mangelhaft. Es ist unmöglich, in einem Bild die allgegenwärtige, ungesehene Seele des Universums einzufangen. Aber etwas von Rauch, Nebel, Wind und Dunst deutet auf einen Heiligen Geist hin, der präsent und aktiv ist im ganzen Kosmos.

Ich machte dieses Foto während einer Wanderung auf dem fast 100 Meilen langen Wonderland Trail rund um den Mt. Rainier in Washington State (USA). Zwischen dem Dunst, der Sonne und den Bäumen rund um mich herum beruhigte das Nebeneinander von Formen und Licht auf dem Trail meinen Geist. Die Worte des Psalmisten kamen mir in den Sinn: “Lasst ab und erkennt, dass ich Gott bin.” Und mein Geist erwiderte dem Geist: “so sei es.”

Thomas Jay Oord
Veröffentlicht im September 2018

Diesen Leitartikel bieten wir auch im englischen Original an.

 [1]  John Muir, “My First Summer in the Sierra” in The Wilderness World of John Muir, Edwin Way Teale, ed. (Mariner Books, 2001 [1911]), 114. Übersetzung: Markus Isch

Thomas Jay Oord ist Theologe, Philosoph und multi-disziplinärer Forscher. Er ist prämierter Autor und hat mehr als zwanzig Bücher verfasst oder herausgegeben. Sein jüngstes Buch, Uncontrolling Love of God,hat die Auszeichnung Reader’s Choice gewonnen und war Bestseller auf drei Amazon-Listen. Oord ist zudem ausgebildeter Fotograf und gefragter Redner. Er hat sich einen Namen gemacht in der Forschung zum Thema Liebe, relationale Theologie und "Open Theology", Wissenschaft und Religion, sowie zum Transformationspotential von Freiheit und Beziehungen.

Picture Credits
©All pictures by Thomas J. Oord

Kontrolliert Gott die Schöpfung?

Wie sollen wir über Gottes Gegenwart in der Schöpfung denken? Wie über jemanden, der auf einem Turm steht und auf unbedeutende Kreaturen im Fluss der Geschichte hinabsieht?

Kommentare (1)

  • Siegfried G.
    Siegfried G.
    am 18.06.2019
    Definition:
    Gott = .....................?

    (ohne das ist eine Diskussion nicht sinnvoll)

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