Das Natürliche und die Schöpfung - Michael Sandel zum Gen-Enhancement Teil II

Nachdem der letzte Post Michael Sandels Büchlein Plädoyer gegen die Perfektion: Ethik im Zeitalter der genetischen Technik (engl. 2007) vorgestellt hat, steht eine Bewertung noch aus. Auf den ersten Blick fand ich selbst Sandel's Argumente gegen eine stetige Ausweitung der unserer Bio-Macht ansprechend. Halten sie aber einer kritischen Prüfung stand?

Wie man Sandel besser nicht kritisieren sollte

Sicher fehlt es Sandel nicht an Kritikern. In meinem letzten Beitrag habe ich argumentiert, dass Kritiker Sandels Konzept der Gabe missverstehen. Eine andere Kritik ist etwa die des Philosophen Allen Buchanan, der Sandel für seine Ansicht zusammenfalten möchte, dass Enhancement-Anhänger aktiv und bewusst maximale Kontrolle über die verschiedensten Bereiche des Lebens anstreben.

Ein prominenter Transhumanist wie John Harris wirbt nun tatsächlich für ein solches Maximal-Projekt: "Der Heilige Gral des Enhancement ist die Unsterblichkeit". [1] Das Enhancement-Projekt wird inhärent von einer Maximierungs-Logik angetrieben, die auf dem utilitaristischen Prinzip beruht, dass eine Gesellschaft das maximieren solle, was die größte Zufriedenheit bewirkt. So zitiert Sandel denn auch Savulescus Überzeugung, dass Optimierungen die moralische Wahl sind - und im Tun des Moralischen soll man ja keine Zurückhaltung üben. Buchanan selbst ist der Ansicht, dass der Staat ein legitimes Interesse daran haben kann, durch biomedizinische Optimierung die gesellschaftliche Produktivität zu steigern, da es das der Gesellschaft erlaubt, die Summe der Güter zu steigern, die sie wertschätzt. Diese Ansicht insbesondere muss in einem eigenen Blogpost zum Thema Eugenik und Euthanasie behandelt werden. Nun ist also Buchanans Erregung über eine Maximierungsunterstellung etwas zu dick aufgetragen. Doch noch darüber hinaus weist sein Gestus der Entrüstung ins Leere. Sandel ist der Ansicht, dass ein künstliches Meistern ein gelingendes Leben unwahrscheinlich macht. Wenn dem so ist, dann sind Enhancements schlecht, und es ist irrelevant, ob man sie bewusst verfolgt oder ob sie sich zufällig ergeben. Auch die Frage, ob Enhancements im großen Stil oder nur in Maßen zum Einsatz kommen, ändert dann nichts an der moralischen Problematik.

Ein anderes Argument gegen Sandel hat mit dem Ausmaß zu tun, mit dem Enhancements die Kontingenz im Leben reduzieren - also das Unvorhersehbare, Nicht-Notwendige. Sandel vertritt die Ansicht, dass Enhancements eine nachhaltige Wirkung haben, indem sie menschliches Handeln maximieren und Kontingenz sehr weitgehend reduzieren. Buchanan kontert dagegen, dass unser Leben auch mit Enhancements in großem Maße kontingenten, unvorhersehbaren Faktoren ausgesetzt sein wird. Dabei setzt er natürlich voraus, dass die Gesellschaft Enhancements lediglich in geringem Maße zum Einsatz bringen wird, während eine bedeutende Zahl von Transhumanisten gerade für ein Maximum an Enhancement argumentiert. Dann aber ähnelt Buchanans Argument, dass auch nach Enhancements unser Leben insgesamt von reichlich Kontingenz bestimmt sein wird, frappant der Ansicht, dass die Zukunft stets zahlreiche Gelegenheiten bereithalten wird, in denen ein Raucher die Zigaretten noch aufgeben kann. Wozu sollte man sich schon jetzt sorgen?

Übrigens könnte der Streit, ob Enhancements Kontingenz zu stark minimieren, auch einfach deplaziert sein. Der Psychothriller des britischen Autors Peter James Nur dein Leben (Perfect People) erkundet, wozu genetische Enhancements führen können. Und siehe da: sie vermehren Kontingenz. Allerdings nicht auf hilfreiche Weise... [2]

Natur und Kultur

Ein Punkt, an dem die Kritiker dagegen Recht haben, ist Sandels Irrtum, dass Enhancements im Sport echtes menschliches Können und echte Anstrengung ersetzen. In einem ersten Fall ist Sandels Argwohn noch berechtigt. Er beobachtet einen zunehmenden Trend im American Football zu einem immer bulligeren Körperbau. Die Mittel, mit denen ein Spieler die schiere physische Präsenz maximiert, haben aber wenig mit der Pointe dieser Sportart zu tun. Deshalb handelt es sich um eine illegitime Praxis - gerade so, wie es bei Enhancements der Fall wäre.

"Ein Football-Spieler im Ruhestand, der der Hall of Fame angehört, beklagt die übertriebene Größe der heutigen Spieler. Sie sind zu massiv gebaut, um durch schnellen Antritt zu klären oder abzuschirmen. Alles was sie können, ist, einander 'die Bäuche entgegenzuschleudern': 'Mehr können sie auf dem Feld nicht. Sie sind weniger athletisch, weniger schnell. Sie verwenden ihre Beine nicht.' Wenn man die Leistung optimiert durch das Reinwerfen von Cheese-Burgern, geht es nicht mehr um athletische Qualität. Vielmehr wird athletische Qualität ausgestochen durch ein knochenzertrümmerndes Spektakel." (35, alle Übersetzungen aus dem Englischen durch A. M.)

Wenn Athleten meinen, durch Cheeseburger statt durch echtes Laufen athletische Qualität zu erzielen, ist etwas schief gelaufen. Ebenso sind nun auch genetische Enhancements nicht legitm, meint Sandel.

Der theologische Ethiker Gerald McKenny weist dagegen auf eine analoge Frage zu neuen Technologien hin: Vermindern sie genuin menschliches Tun? In seinem Beispiel virtueller Persönlichkeiten auf Online-Plattformen können neue Technologien vielleicht befremdlich wirken, doch dort werden genuin menschliche Dinge verhandelt, und die Technologie ersetzt den menschlichen Faktor nicht [3]. Entsprechend weist auch Buchanan darauf hin, dass athletische Enhancements das Training im Sport nicht ersetzen, sondern im Gegenteil noch härteres Training ermöglichen.

Beim Sport-Enhancement scheinen Technologie und das genuin menschliche Tun komplementär. Natur und Kultur ergänzen einander. Das aber ist bei Sandel nicht vorgesehen. Vielmehr empfiehlt er immer wieder, dass "natürliche Talente" zum Einsatz kommen, und weist auf "natürliche Gaben" hin. Er fragt nach der "Linie, die die Kultivierung natürlicher Gaben trennt von ihrer Zerstörung durch Kunst und Geschick". Hier haben wir es mit einem sehr schwierigen Teil von Sandels Ansatz zu tun - denn wo hört Natur auf und wo fängt Kultur an?

Was meinen wir mit Natur?

Eine Veröffentlichung des britischen Nuffield Council on Bioethics untersucht das Konzept des Natürlichen ("naturalness") und unterscheidet dabei fünf unterschiedliche Dinge, die mit dem Wort "natürlich" gemeint sein können. Auf den ersten Blick könnte der eine oder andere Punkt zu einer ethischen Wertschätzung des Natürlichen beitragen, aber keine Perspektive überzeuigt letztlich.

  • Laut der skeptischen Position ist alles natürlich, und die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur ist Schein. Tatsächlich liegt eine Ironie in der beliebten Klage über "die ganze Chemie überall". Denn schließlich gibt es keinen inhärenten, molekularen Unterschied zwischen Kohlendioxid, das "natürlich", etwa in der Atmung der Tiere, auftritt, und dem, das aus dem Auspuff kommt. Bei Buchanan findet sich ein ähnliches Argument, wenn er meint, in der menschlichen Evolution sei die Natur inhärent kulturell und Kultur inhärent natürlich. Man findet eine Interdependenz von Natur und Kultur zudem im Verhalten von Tieren. Wilde Schimpansen in Nigeria verwenden Medizin, indem sie in bestimmten Fällen bestimmte Blätter mit medizinalen Eigenschaften fressen, die sie sonst meiden. In der Elfenbeinküste verwenden Schmipansen Steine als Hammer und Amboss, um mit großem Durchhaltevermögen Palmölnüsse zu knacken, und sie suchen dafür gezielt nach Steinen mit dem richtigen Gewicht.
  • Die Position der "Weisheit der Natur" nimmt an, dass man Prozeduren und Produkte, die über lange Zeitabschnitte evolviert sind, am besten nicht manipuliert. Tatsächlich runiert man ein Ökosystem am effizientesten, indem man es verbessert. Andererseits kommt es natürlich in der "Natur" und in der Evolution oft zu moralisch problematischen Entwicklungen. Zahlreiche Frauen sterben etwa bei der Geburt, wenn moderne Medizin nicht zum Einsatz kommt.
  • Bis zur naturwissenschaftlichen Revolution, die im 17. Jahrhundert begann, war die teleologische Ansicht, dass Organismen einen "natürlichen Zweck" haben, weit verbreitet im Westen. Doch auch heute trifft man diese Auffassung oft an. Natürlich wissen wir, dass der "Zweck" der Hühner nicht im Eierlegen für den Frühstückstisch besteht. Andererseits wirken Tiere oft gestresst oder gar neurotisch, wenn sie nicht artgemäß gehalten werden, etwa in Legebatterien oder einem Billig-Zoo und Billig-Zirkus. Hier hat die Evolution anscheinend in ihren Körper die Bedingungen eingeschrieben, unter denen sie aufblühen, und das könnte man den Zweck dieser Tiere nennen, ihre Natur. Die Philosophin Mary Midgley argumentiert außerdem, dass es Teil der menschlichen Natur ist, etwa eine Privatsphäre zu haben, was in bestimmten Fällen etwa die Institution des Privateigentums notwendig macht. Zur menschlichen Natur gehören etwa auch elementare Freiheiten.
  • Die Vorstellung des Natürlichen ist außerdem dem Gefühl der Abscheu inhärent. Traditionell konnten sich Zeitungen einer soliden Resonanz sicher sein, wenn sie das Wort "Frankenstein-" an Dinge hefteten, die auf unkonventionelle Weise modifiziert werden (oder "Frankenfood", etc.). "Igitt" ist natürlich kein legitimes ethisches Argument, aber es ist eine Intuition, aus der heraus man vielleicht ein ethisches Argument entwickeln kann (oder auch nicht).
  • Religiöse Semantik wird oft verwendet, um dem Argument für traditionelle Prozeduren zu größerer Durchschlagskraft zu verhelfen. Die "Natur" belässt man am besten, wie sie war, meinen viele, denn sie sei Gottes Schöpfung. Der Zustand, in dem sich die Dinge natürlich befinden, ändert sich natürlich im Laufe der Evolution. Jeder einzelne Zeitpunkt markiert in der Natur lediglich einen Schnappschuss, der einen Moment im stetigen Flux festhält. Darwins Evolutiontheorie ist gewiss stichhaltig, und ebenso widerspricht sie keineswegs dem Glauben an einen Schöpfergott. Aber es wird tatsächlich sehr viel schwieiger anzugeben, welcher Augenblick in dem sich ändernden Zustand der Natur nun denn normative Gletung haben sollte.

Sandel und die theologische Lehre der Schöpfung

Die Ansicht, dass das Natürliche als Schöpfung ethisch normativ sei, ist hier besonders relevant, da Sandel explizit theologisch argumentiert:"Die Ansicht, dass unser Talent und Können ganz auf unser eigenes Tun zurückgeht [und also Enhancements zu bejahen sind], ist ein Missverständnis unseres Ortes in der Schöpfung, eine Verwechslung unserer Rolle mit der Gottes." (85)

"Manche teilen beipielsweise mit der Antike die Ansicht, dass die Natur heilig ist, im Sinne von verzaubert, oder dass ihr inhärent Sinn eingeschrieben sei, dass sie durch göttliche Absichten bewegt wird. Andere, in der jüdisch-christlichen Tradition, sehen die Heiligkeit der Natur in Gottes Erschaffung des Universums begründet. Andere wiederum halten die Natur für heilig schlicht in dem Sinn, dass sie kein bloßes Objekt sei, das uns zur freien Verfügung steht, offen für jegliche Nutzung, die uns naheliegt." (93 f).

Sandel selbst ist praktizierender Jude. Daher ist es interessant, dass er religiöse Ansichten zitiert, sie dann vermeintlich für die säkulare Perspektive erläutert ("Gabe" als "Talent") - sie aber gerade nicht theologisch diskutiert.

Bedenklich ist theologisch zunächst, dass Sandel Schöpfung als einen Heilsbegriff verwendet. Im biblischen Buch Hiob dagegen fragt Gott etwa, "Erjagst du Beute für die Löwin, stillst du den Hunger der jungen Löwen, wenn sie sich ducken in den Verstecken, im Dickicht auf der Lauer liegen?" (Hiob 38) Es ist Gott als Schöpfer, der den Hunger der Löwen stillt - und wohlgemerkt kann ein Löwe auch Appetit auf Menschen haben.

Zum Problem des Verständnisses der Schöpfung als Heilsbegriff kommt hinzu, dass unklar bleibt, was Schöpfung genannt werden kann und was nicht. So kann etwa auch ein "Playmate" versichern, dass Gott sie nun einmal mit besonderen Reizen erschaffen habe, und wer sollte sich für die Gaben des Schöpfers schämen?

Theologisch ist außerdem zu fragen: In welchem Sinne schließt Gottes schöpferische Aktivität das geschöpfliche Tun aus? Im ersten biblischen Schöpfungsbericht, Genesis 1, bringt das Wasser auf Gottes Geheiß Tiere hervor, genauso wie die Erde später Pflanzen und Tiere hervorbringt. Eine andere biblische Schöpfungstradition spielt auf die "Mutter Erde"-Vorstellung an, indem sie impliziert, dass Gottes Schöpfung die Schöpfung veranlasst, die Natur hervorzubringen: "Es war dir mein Gebein nicht verborgen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward unten in der Erde." (Psalm 139:15)

Diese Beobachtungen legen die Frage nahe, worin der Unterschied eines genetischen Eingreifens in die Schöpfung einerseits und eines geschöpflichen Mit-Hervorbringens der Schöpfung besteht. In beiden Fällen ist das Geschöpf bei der Gestaltung der Schöpfung beteiligt. Sicherlich reduziert die Bibel das göttliche Schöpfungswirken nicht darauf, dass das Geschöpf die Schöpfung hervorbringt. Beispielsweise verwendet Genesis 1 eine bestimmte Verbform für erschaffen ausschließlich, wenn Gott das Subjekt ist, wie es auch in der Hebräischen Bibel insgesamt der Fall ist. Das Verb wird nicht bei Menschen verwendet. An anderen Stellen kann Gott dagegen wie ein menschlicher Handwerker bei der Arbeit dargestellt werden. Hier birgt der Text eine faszinierende Spannung, die möglicherweise gerade darauf abzielt, dass die Leserinnen und Leser die Frage diskutieren, wie sich die Rolle des Geschöpfs und die Rolle Gottes in der Schöpfung verhalten. Hier versichert Sandel, dass genetische Enhancements einen Übergriff auf Gottes Rolle als Schöpfer, die ihm allein zukommt. Genetische Enhancements dagegen würden menschliche Talente auf "einzig unser eigenes Tun" zurückführen. Eine theologische Reflexion wirft dagegen die Frage auf, wie wir die geschöpfliche und die göttliche Rolle in der Schöpfung differenzieren können - und ob eine solche Konzentration auf die Kategorie der Schöpfung überhaupt sinnvoll ist.

Wenn man sich darauf aber einlässt, entstehen Schwierigkeiten. Transhumanisten etwa fahren verschiedene Beispiele auf, in denen menschliches Tun deutlich zum menschlichen So-Sein beigetragen hat. In der Regel handelt es sich dabei um langfristige, unvorhergesehene Effekte kollektiven kulturellen Handelns.

Bildung, Alphabetisierung und mathematisches Können sind prominente Beispiele kultureller Techniken, die nicht nur beeinflussen, was und wie wir denken (das ist Buchananas Argument), sondern sogar Auswirkungen auf die Struktur unseres Gehirns haben. Beispielsweise müssen sich Londoner Taxifahrer immer noch 25.000 Straßen und etwa 20.000 markante Punkte einprägen, um ihre Taxi-Lizenz zu erhalten - selbst im Zeitalter der Navis. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass Londoner Taxifahrer eine modifizierte Hirnstruktur aufweisen, mit einem größeren Hippocampus als üblich. Aber nichts ist unmoralisch daran, in London Taxi zu fahren.

Seit den Anfängen der Menschheit hat die Fähigkeit symbolischer Kommunikation Menschen einen evolutiven Vorteil eingebracht. Symbole grammatikalisch zu strukturieren, erhöht diesen Vorteil noch, da die Kommunikation effizienter wird. An irgendeinem Punkt übertrafen nun Menschen mit etwas größeren Gehirnen ihre Artgenossen mit etwas kleineren Hirnen darin, Symbole flüssig und geschickt zu verwenden. Somit bedeuteten Gene, die mit einer höheren Neuronen-Anzahl korrelierten, einen Selektionsvorteil gegenüber Menschen mit einer herkömmlichen Hirngröße. Im Laufe der Zeit verdrängten Menschen mit größeren Gehirnen, die Grammatik verwendeten, Menschen mit weniger Neuronen. Hier liegt eine Ko-Evolution von Gehirn und Kultur vor. Zwei eigenständige Phänomene stabilisierten sich wechselseitig und brachten eine langfristige Dynamik hervor. Diese Konstellation führte schließlich zu der charakteristischen menschlichen Gehirngröße, entsprechenden Genen, und einer anspruchsvollen Organisation der Neuronen (die ihrerseits nicht auf Gene zurückgeht).

Größere Gehirne bedeuten auch potentiell Schwierigkeiten bei der Geburt, da das Köpfchen des Babys den Geburtskanal der Mutter passieren muss. Das hatte wiederum bedeutdende Konsequenzen für die menschlichen Fähigkeiten und Talente. Menschen werden zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt der Entwicklung geboren, denn deutlich später als neun Monate nach der Empfängnis würde der Kopf nicht mehr durch den Geburtskanal der Mutter passen. Das Gehirn des Babys ist noch unfertig, und so ist es offen für zahlreiche Einflüsse, die es im Mutterleib nicht erfahren würde, etwa Formen der perönlichen Bindung durch Geräusche und Berührungen oder Imitation von Gesichtsausdrücken. Damit wird das biologische Organ zugleich ein kulturelles Organ, da es zahlreiche kulturelle Faktoren in die Hirnstruktur miteinfaltet. Der frühe Einfluss dieser Faktoren auf die Gehirnentwicklung und auf unsere Persönlichkeit ist beträchtlich, aber es war nicht immer so unter den Primaten. Eine moralische Beschlagnahme der Schöpfung ist auf den ersten Blick sehr eindrücklich, aber in der weiteren Diskussion schwer zu verteidigen.

Der Kulturtheoretiker und Theologe Friedrich Wilhelm Graf hat deshalb recht:

"So ist Schöpfung immer auch ein Grundbegriff politisch-sozialer Sprache. Wer eine Institution als vom Schöpfer selbst gestiftet deutet, will sie der Verfügung des Menschen entziehen. Und wer sich Schöpfungssprache erfolgreich zu eigen macht und seine Schöpfungssicht durchsetzt, verfügt über religiös-politische Deutungsmacht."

Sandels Argumentation zugunsten des Perfektionismus Sandel zieht die Linie zwischen natürlich und unnatürlich dort, wo wir absichtlich Gene modifizieren. Aber ist es nicht ironisch, dass ausgerechnet ein Harvard-Professor gegen die Perfektion argumentiert? Oder weshalb ist ausgerechnet die Gen-Modifikation der Punkt, an dem er die Grenze überschritten sieht?

Die absichtliche Gen-Modifikation kann auch therapeutischen Zielen dienen, anstelle die Fähigkeiten eines Gesunden zu erweitern. Laut Sandel ist es legitim, embryonale Stammzellen für die medizinische Forshung zu verwenden. Diese Prozedur ist unter den Gegnern des Enhancement dagegen umstritten, nicht aber bei Transhumanisten.

 

Als außerdem Herz- und Gehirn-Operationen zum ersten Mal praktiziert wurden, befürchteten Kritiker, dass sich hier etwas grundlegend Widernatürliches einbürgert. Sogar als Michelangelo die menschliche Anatomie an Leichen studierte, war Geheimhaltung vonnöten, da er in den Augen der Behörden ein Sakrileg beging. Etablieren all diese Prozeduren nicht eine verobjektivierende Haltung gegenüber Menschen? Verwischen sie nicht die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur - behandeln sie nicht eine Person wie ein Artefakt, obwohl sie von Natur aus nicht auf Technologie und menschliches Vollbringen reduzibel ist?

Sandel antwortet darauf: "Ein krankes oder verletztes Kind zu heilen, durchbricht nicht seine natürlichen Kapazitäten, sondern erlaubt ihm ein gelingendes Leben", wobei Sandel vom flourishing, dem aristotelischen Konzept des guten Lebens spricht, das aus tugendhaftem Handeln tiefe Zufriedenheit gewinnt (Eudämonie). Wir können - und müssen - ein erfülltes Leben ohne Enhancements führen, so Sandel, aber therapeutisches Handeln kann für das gute Leben tatsächlich vonnöten sein, und so ist therapeutisches Handeln moralisch. Allerdings ist nach der Ansicht des Aristoteles das gute Leben stets relativ zur Natur des Lebenden. Das bezog zwar nach Aristoteles durchaus die ärztliche Kunst ein. Eine Veränderung der menschlichen Natur dagegen war für Aristoteles gar nicht vorstellbar.

Für uns wäre eine Veränderung der menschlichen Natur jedoch durchaus vorstellbar, und das wirft zuallererst die Frage auf, ob nicht auch Therapie eine Veränderung der Natur ist. Sollte man also anstelle von Sandels Auskunft nicht besser sagen, "ein krankes oder verletztes Kind zu heilen, erlaubt ihm ein gelingendes Leben - gerade durch die Durchbrechung seiner natürlichen Kapazitäten" -? [3] Weshalb können wir also individuelle natürliche Grenzen im Heilungsprozess durchbrechen? Liegt der Grund darin, dass wir die natürlichen Grenzen des Individuums denen der Spezies anpassen? Dann hätten wir ein egalitäres Konzept, das therapeutische Interventionen legitimieren könnte, denn Therapie stellt Spezies-typische Funktionen her.

Es ist aber unklar, wie weit Sandel hier mitgehen könnte.

Die ethische Vision seines Büchleins scheint nicht egalitären, demokratischen Idealen anzuhängen. Das sagt Sandel ausdrücklich in seiner Diskussion athletischer Enhancements. Mit athletischen Enhancements könnte praktisch jeder im richtigen Alter und von durchschnttlichem Talent zu einem ernsthaften Athleten werden, nimmt er an. Doch gerade das würde den Anstoß unseres "athletischen Ideals" erregen. Denn damit würde athletische Leistung auf verbissenes Training reduziert, Brillianz auf Hartnäckigkeit, mysteröse Magie zum "versuch's einfach noch mal". Womit wir es dagegen zu tun haben, wenn Enhancements fehlen, ist die Laune der Natur. Nur das seltene Individuum hat das "magische Händchen", und dem Rest der Menge bleibt nur das Staunen.

"Herausragende Fähigkeiten bestehen zumindest teilweise im Ausleben natürlicher Talente und Gaben, die nicht auf das Tun dessen zurückgehen, der über sie verfügt. Für demokratische Gesellschaften ist das unbequem. Wir möchten glauben, dass Erfolg im Sport und im Leben etwas ist, das man verdient, nicht etwas, das wir erben. Die Gaben der Natir, wie auch die Bewunderung, die sie auslösen, sind dem meritokratischen Ideal peinlich. Sie rufen Zweifel an der Überzeugung hervor, dass Ruhm und Tantiemen allein auf dem Bemühen beruhen. Angesichts dieser peinlichen Lage übertreiben wir die moralischen Bedeutung des Bemühens und des Einsatzes, und wir würdigen die Gabe herab." (28)

Sehen wir den Tatsachen ins Auge, so Sandel: Im Leben geht es nicht um Chancengleichheit. Wenn jeder einen Preis erhält, erhält niemand einen Preis. Das aristokratische, olympische Ideal ist unserer Biologie inhärent, und diejenigen auf den oberen Sprossen der Leiter könnten geradezu lachen über die Versuche derer, die allen eine gute Ausgangsposition verschaffen möchten.

Eine besondere Ironie liegt hier darin, dass Sandel zwar "gegen die Perfektion" schreibt, doch sein Ethos des überlegenen Individuums ist traditionell mit dem Perfektionismus verbunden. Nach dem traditionellem Perfektionismus sollten Mittel gerade für eine elitäre Ausbildung derer aufgewendet werden, die bereits außerordentliches Talent bewiesen haben. Die Vervollkommnung der wenigen Hervorragenden ist moralisch der Verbesserung einer größeren Anzahl derer vorzuziehen, die weniger begabt sind. Das exzellente Niveau ist überproportional wertvoll im Vergleich zum guten Niveau, und eine Abkürzung, über die sich das exzellente Niveau leichter erreichen ließe, gibt es nicht.

Fazit

Laut Sandel ist die Natur, ist die Schöpfung so geartet, dass nur eine geringe Anzahl von Menschen zu besonders exzellenten Leistungen fähig sind. Darin liegt ein Mysterium, und wir sollten nicht daran rühren. Das wirft allerding sdie Frage auf, wie er dann dafür argumentieren kann, in der ärztlichen Behandlung die Natur zu manipulieren. Wenn wir die Natur zu einem Heilsbegriff stilisieren, dann ist es konsequenter, alle einmischung in die Natur zu verwerfen. Sandel dagegen erläutert nicht, weshalb therapie moralisch legitim ist. Die Natur außerdem zum Heilsbegriff zu machen, ist ein zweifelhaftes Unterfangen. Dass Gottes schöpferisches Handeln, auf das er sich dabei beruft, das Geschöpf vom schöpferischen Wirken gerade ausschließe, ist theologisch fragwürdig. Wenn dagegen Therapie legitim ist, Enhancements aber nicht, dann müssen die Gründe andere sein als die von Michael Sandel.

 

Anmerkungen

[1] "The Holy Grail of enhancement is immortality" - in Enhancing Evolution.

[2] Peter James, Nur dein Leben: Psychothriller, Frankfurt am Main: Fischer, 2013.

[3] Gerald P. McKenny, "Technology", in: The Blackwell Companion to Religious Ethics, ed. William Schweiker. Malden: Blackwell, 2005, 459-468.

[4] Mein vorangehender Post zu Sandel kritisierte, das Lewens Sandel auf ähnliche Weise kritisierte, während ich hier anscheinend dieselbe "rutschige" Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement gegen Sandl einsetze. Worin unterscheidet sich mein Argument von Lewens'? Lewens spricht sich für eine schwächere Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement aus, so dass eine Bejahung medizinischer Therapie eine Verneinung von Optimierungsversuchen erschwert. Meine Kritik an Lewens besagt, dass Sandel seine Unterscheidung zwischen Therapie und Optimierung nicht allein mit der Unterscheidung zwischen der traditionellen Hilfe zum gelingenden Leben und dem Durchbrechen speziestypischer Merkmale begündet. Sandel hebt außerdem hervor, dass eine Therapie der Sache nach eine begrenzte Tätigkeit ist. Wenn ich dagegen hier Sandel kritisiere, geht es mir nicht darum, dass die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement schwammig sei - das ist sie m.E. nicht - sondern ich frage, weshalb Sandel eine Therapie überhaupt für moralisch legitim hält.

 

Bildnachweise

Michael Sandel: Harvard Ethics, flickr

Zigarettenschachtel: Quit smoking - Henrik Jensen, flickr

Footballspieler: Jeffrey Beall, Wikimedia Commons

Natur im Rahmen: Catkin, pixabay

Michelangelo, The Creation of Adam. Wikimedia Commons

London Taxi: City.and.Color, flickr

Baby: 3rdeyedezine0 at pixabay

Michelangelo, Beinmuskulatur. Wellcome Images, operated by the Wellcome Trust. Creative Commons

Rembrandt, Die Anatomie des Dr Tulp, Wikimedia Commons

Diskus-Werfer: Discus-thrower, Lawrence OP at flickr

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