Das Andere der Natur. Neue Wege zur Naturphilosophie von Jan Cornelius Schmidt

Rezension von Dr. Frank Vogelsang

Welche Rolle kann die Naturphilosophie in Zukunft spielen? Ist sie angesichts der Erfolge naturwissenschaftlicher Forschung auf eine begleitende methodenorientierte Wissenschaftstheorie zu reduzieren oder hat sie ein eigenständiges Erkenntnisinteresse? Mit dieser Frage setzt der Physiker und Philosoph  Jan Cornelius Schmidt in seinem neuen Buch „Das Andere der Natur“ ein.

 

Der Autor plädiert entschieden für die Eigenständigkeit der Naturphilosophie und scheut auch nicht, ihren metaphysischen Anspruch zu bestärken. „Metaphysische Hintergrundüberzeugungen sind für die Naturwissenschaft keineswegs belanglos oder beliebig.“ (S. 18) Der Bedarf an philosophischer Orientierung wird dabei aber nicht von außen an die Naturwissenschaften herangetragen, sondern entspringt ihrem eigenen Erkenntnisfortschritt. Denn Schmidt diagnostiziert in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Wende in den Paradigmen naturwissenschaftlicher Forschung: „Leitend ist die Erkenntnis von Instabilität. Dass nicht nur in Stabilität, sondern auch in Instabilität ein Charakterkern von Natur liegt, hat die Naturwissenschaft in den letzten 40 Jahren zeigen können.“ (S. 8) Die Natur ist bei näherem Hinsehen nicht die Laplace’sche Natur genau berechenbarer Vorgänge, sondern sie ist vielmehr auch instabil, komplex, chaotisch, zufällig und emergent; sie vermag Neues hervorzubringen, ermöglicht Werden und Wachsen. Es waren hartnäckige, äußerst spekulative metaphysische Annahmen, die jahrhundertelang die Vorherrschaft des Stabilitätsdogmas der naturwissenschaftlichen Forschung geprägt haben. Instabile Vorgänge, auf die es immer wieder Hinweise gab, durften nur den Status einer Störung haben. Erst ein Fortschritt in der wissenschaftlichen Theoriebildung, erst die Beschäftigung mit nichtlinearen Dynamiken und dissipativen Prozessen fern des Gleichgewichts, hier bezieht sich Schmidt vor allem auf die Arbeiten von Ilya Prigogine, öffnete den naturwissenschaftlich Forschenden die Augen für die weit verbreiteten instabilen Vorgänge der Natur. Er unterscheidet dabei grundsätzlich drei Formen von Instabilität: die statische Instabilität, die dynamische Instabilität und die strukturelle Instabilität. Instabilitäten bedeuten hiernach nicht nur eine gewisse Einschränkung der Erkenntnisfähigkeit, sondern sie sind Grundlage für Kreativität und basale Selbstorganisations- und Lebensprozesse.


Selbstorganisation schafft qualitativ Neues

Der Autor behandelt im Verlauf der Kapitel einige der großen Deutungsfragen, die die neuere naturwissenschaftliche Forschung aufwirft. Stets ist es seine leitende Frage, welche Antworten unter der Berücksichtigung instabiler Prozesse in der Natur möglich sind. So widmet er sich in einzelnen Kapiteln der Frage der Selbstorganisation, der Zeit, dem Zufall, der Kausalität, dem Kosmos und dem Verhältnis von Gehirn und Geist. Zu den einzelnen Themen bietet er informative Rückblicke in die philosophische und naturwissenschaftliche bzw. mathematische Theoriegeschichte und verbindet sie mit der neueren Diskussion um Instabilitäten in der Natur. Den Kapiteln schließen sich weitere an, die über die engere Naturwissenschaft hinaus das Augenmerk auf die Technik, auf Fragen der Ästhetik, auf  Ethik und Umwelt und auf die Bewertung von Wissenschafts- und Technikfolgen lenken. Alle Kapitel behandeln sehr interessante Probleme; im Rahmen einer Rezension kann ich hier nur auf zwei Themen eingehen. Zentral für das Anliegen von Schmidt sind insbesondere die Kapitel zur Zeit und zur Selbstorganisation. In beiden Themen gibt es scheinbar eine Kluft zwischen der klassischen Beschreibungsform der Naturwissenschaften und unserer lebensweltlichen Erfahrung: So erleben wir die Entstehung von qualitativ Neuem, nach klassisch-physikalischer Beschreibung aber sollte es nur die Rekombination von Bekanntem geben. Weiterhin erfahren wir die Zeit als eine irreversible Größe, nach klassisch-physikalischer Zeitauffassung aber sollten alle Prozesse reversibel sein. Man kann, und das ist in der naturwissenschaftlichen Forschung lange Zeit betrieben worden, die lebensweltlichen Eindrücke als oberflächlich und im negativen Sinne „subjektiv“ deuten. Doch ist das unbefriedigend, es gäbe dann den von dem Philosophen Hans Blumenberg diagnostizierten Zerfall der Zeitauffassungen in eine subjektive Lebenszeit und eine objektive Weltzeit (S. 100). Schmidt hält mit dem Verweis auf der Natur inhärente Instabilitäten dagegen: Diese Prozesse zeigen, dass die Natur zu Selbstorganisationsprozessen fähig ist. Damit ist auch die irreversible Zeit nicht nur phänomenal-subjektiv, sondern zugleich auch fundamental-objektiv.


Die "tanzende" Natur

Schmidt plädiert für ein neues Naturbild aufgrund der Bedeutung instabiler Vorgänge in der Natur. Die Natur besteht nicht aus festgefügten, starren Entitäten mit streng berechenbaren Relationen, sondern sie ist ein chaotisches Gesamt, „sie tanzt, bildlich gesprochen, auf des Messers Schneide“ (S. 324). Mit dieser Natur umzugehen, heißt auch, bescheidener bezüglich des eigenen Berechenbarkeitsanspruchs zu werden. Diese Einsicht ist gerade für den Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie von großer Bedeutung. Jene Positionen, die die Theologie am stärksten herausfordert, ist die immer noch verbreitete Behauptung, wissenschaftlich sei doch Natur geschlossen und global berechenbar. Die Vermessung der Welt ist nicht nur ein Projekt des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern auch des 20. Jahrhunderts. Es geht wie bei anderen metaphysischen Thesen nicht nur darum, ob die Vermessung de facto gelingt, entscheidend ist auch die Annahme, die Welt sei im Prinzip vermessbar. In einer solchen vermessbaren Welt aber hat die Theologie einen schweren Stand. Ihre Aussagen über Gott erscheinen verzichtbar und überflüssig, ja für eine „nüchterne“ und „objektive“ Weltorientierung geradezu gefährlich. Nun schafft die Erkenntnis in die grundlegende Instabilität der Naturvorgänge zwar nicht zugleich einen Freiraum für Gott, ein solcher Schluss wäre meiner Ansicht nach theologisch fahrlässig, Schmidt hält theologische Überlegungen auch außen vor. Wohl aber kann die Erkenntnis über die Instabilitäten in der Natur die Einsicht in die begrenzte menschliche Fähigkeit der Naturberechnung und -kontrolle befördern. Das könnte eine größere Sensibilität für das Unverfügbare der Natur nahelegen, in deren Vorgänge wir eingebunden sind – gar mit Relevanz für unseren Naturumgang und für die Umweltethik. Schmidt resümiert: „Wir haben erst begonnen, das Andere der Natur zu denken und zu erkennen.“ (S. 324)


Ein indirekter Beitrag zum Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie

So zielt Schmidt darauf ab, die harten Grenzlinien zwischen der vermessenen und berechenbaren Natur der klassisch-modernen Naturwissenschaften einerseits und den  geschichtlich gewordenen Manifestationen von Natur unserer Kultur und Lebenswelt andererseits durchlässiger zu machen. In diesem Sinne stellt das naturphilosophische Buch auch eine Bereicherung für den Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie dar! Das Buch ist sehr gut auch für Leserinnen und Leser ohne naturwissenschaftliche Vorbildung lesbar und es ist anregend geschrieben. Eine gute Orientierung bietet ein zusammenfassendes Fazit am Ende eines jeden Kapitels. Informativ ist auch ein umfang- und hilfreiches Sachregister.

Dr. Frank Vogelsang, Direktor der Ev. Akademie im Rheinland, Bonn

Hirzel Verlag Stuttgart 2015 ISBN 978-3-7776-2410-5, 360 Seiten, 29,40 Euro