Warum braucht die Menschheit Biodiversität?

Leitartikel von Fabien Revol

Was für ein seltsamer Titel! Im Zusammenhang mit der ökologischen Krise würde ein guter Titel vielleicht dazu beitragen, dass wir uns fragen, warum Biodiversität an und für sich wichtig ist. Dass die Menschheit Biodiversität braucht, ist dieser Frage untergeordnet und liegt auf der Hand: Ohne Biodiversität ist menschliches Leben auf der Erde nicht möglich, in der Tat wäre überhaupt kein Leben möglich ohne sie [1]. Der Verlust von Biodiversität ist für die Menschheit in Bezug auf ihre unmittelbaren Bedürfnisse in der Tat katastrophal, aber man würde bei dem Verweilen auf dieser Fragestellung den Sinn einer ökologischen Ethik verfehlen, die die Würde des Menschen in ihre Überlegungen einbezieht. Lassen Sie uns also erst überlegen, warum Biodiversität für menschliches Leben notwendig ist. Um sie besser zu schützen, sollten wir die wahre Natur der Biodiversität aber tiefer verstehen. Schließlich werden wir erkennen, warum Biodiversität einem spirituellen Bedürfnis der Menschheit entspricht.

I. Die Notwendigkeit von Biodiversität für das Überleben der Menschheit

1. Ein wirklich schlechter Ansatz für den Schutz der Biodiversität: menschliche Bedürfnisse

Die Frage der Biodiversität als ethische Frage dreht sich um die Bedeutung und den Wert der Existenz verschiedenartiger Lebewesen in der Welt. Der abendländisch geprägte Mensch sieht diesen Wert in Anlehnung an die kantische Unterscheidung von Person und Ding in der Regel in deren Nutzen und in ihrer Verwertbarkeit [2]. Nur Personen haben Würde. Alle anderen Lebewesen haben nur einen instrumentellen Wert. Die Reduktion von Lebewesen auf konsumierbare Dinge ist der Kern der historischen Ursachen der ökologischen Krise, insbesondere hinsichtlich der Biodiversität. Dies nennt der Philosoph und Theologe Romano Guardini "instrumentelle Vernunft" [3].

Die Frage, ob die Menschheit der Biodiversität bedarf, ist also eine zweischneidige Angelegenheit bzw. ein Ansatz mit einem inhärent problematischen Aspekt. Auf der einen Seite ist die Frage unbedingt mit "Ja" zu beantworten. Denn ohne Biodiversität ist die menschliche Zukunft in Form der Ernährung gefährdet. Diese hängt in der Tat von einer Vielzahl pflanzlicher und tierischer Quellen ab, die sich je nach geografischer Lage unterscheiden. Tiefergehender kann man auch sagen, dass Biodiversität für eine gute Beschaffenheit der Böden notwendig ist, um die richtigen Bedingungen für den Anbau von Nahrungsmitteln zu schaffen. Biodiversität liefert die Moleküle, die für eine gute Gesundheit oder für die Heilung von Krankheiten notwendig sind. Wenn wir den Rahmen noch etwas erweitern, ist Biodiversität auch die eigentliche Voraussetzung für das Leben auf der Erde und die Kontrolle des klimatischen Gleichgewichts seit Milliarden von Jahren (wenn wir der Gaia-Hypothese eine gewisse Richtigkeit zugestehen [4]) . Also ja, wenn wir Menschen eine Zukunft auf der Erde haben wollen, sollte der Schutz der Biodiversität als Priorität angesehen werden.

2. Die Bedingung der menschlichen Existenz: Glieder eines gemeinsamen Hauses

Der letzte Punkt ist wichtig, weil er etwas impliziert. Das menschliche Leben hängt vom Leben anderer Wesen ab, der Mensch ist Mitglied einer größeren Gemeinschaft von Lebewesen innerhalb einer Biosphäre. Die Zerstörung der anderen Mitglieder dieser Gemeinschaft ist gleichbedeutend mit Selbstmord. Es besteht eine gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen auf der Erde, die das Überleben sowohl der einzelnen Mitglieder als auch der Gemeinschaft als Ganzes konfiguriert.

Das Leben auf einem als gemeinsames Haus verstandenen Planeten impliziert für den Menschen das Verständnis der verschiedenen Teile dieses Hauses als Mitglieder einer voneinander abhängigen Lebensgemeinschaft. Die Wände des gemeinsamen Hauses bestehen aus den Mitgliedern der Gemeinschaft, und der Mensch wird sowohl als Mitglied als auch als Wand oder Dach verstanden, in dem Sinne, dass er den Lebensraum für zahlreiche Lebewesen darstellt. Von hier aus lässt sich eine Verbindung zu Hans Jonas' ethischem Vorschlag herstellen: «Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden» [5]. In diesem Fall und im Sinne von Jonas ist die Sorge um Biodiversität eine Sorge um die Menschheit und damit um Menschenwürde.

Die Ursachen der weltweiten Krise der Biodiversität und die Möglichkeiten zu ihrer Bewältigung sind eng mit der Art und Weise verknüpft, wie die Natur bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen aller Ebenen bewertet wird. Dabei ist die Integration des Folgenden von größter Bedeutung: Selbst, wenn die Menschheit beginnt, ihre inneren Zusammenhänge innerhalb der Biodiversität zu verstehen, reicht dies nicht aus, um eine echte ökologische Ethik zu entwickeln, weil wir dann immer noch an der Idee von Nutzen und Notwendigkeit festhalten, die das Problem ja erst hervorgerufen hat. Die Erkenntnis, dass die Menschheit durch den Verlust von Biodiversität bedroht ist, sollte zwar bereits eine ausreichend starke Motivation sein. Dafür wurde ein Konzept geschaffen: Ökosystemleistungen [6]. Aber wenn die Menschheit bei der ethischen Betrachtung einen Schritt weiter gehen will, könnte das Anliegen der Biodiversität besser berücksichtigt werden, wenn wir anfangen, die instrumentelle Vernunft zu vergessen und über den nicht-instrumentellen Wert der verschiedenen (lebenden) Wesen, die unseren Planeten bevölkern, nachzudenken. Dies ist eine Frage der Zivilisation, die unser Verhältnis zu anderen Lebewesen betrifft. Sie erfordert ein besseres Verständnis dessen, was Biodiversität ist.

II. Die Notwendigkeit für die Menschheit, die wahre Natur von Biodiversität zu verstehen und ... die Menschheit

1. Ein Prozess durch die Zeit

Ich schließe mich hier dem Beitrag der französischen Philosophin Virginie Marris an, die zwei grundlegende Dimensionen oder Merkmale der Biodiversität identifiziert [7].

Einerseits ist Biodiversität die Vielfalt des Lebendigen auf der Erde auf verschiedenen Organisationsebenen. Dabei geht es nicht nur um die Vielfalt der Arten, sondern vielmehr um die Vielfalt der biologischen Realitäten. Sie reicht von der molekularen Ebene, wie zum Beispiel der genetischen Vielfalt, bis hin zur Vielfalt der Ökosysteme. Dazwischen gibt es die Vielfalt der Zellen, der Gewebe, der Phänotypen unter den Organismen einer Population, die Vielfalt der Populationen einer Art, die Vielfalt der Arten und andere taxonomische Bereiche. Sich gegenwärtig um Biodiversität zu kümmern, impliziert ökologische Maßnahmen auf allen diesen Ebenen. Diese Sichtweise der Biodiversität betont den heutigen Zustand der Vielfalt. Sie blendet aber die Tatsache aus, dass das Leben auf der Erde eine Geschichte hat und dass der heutige Zustand der Biodiversität das Ergebnis eines sehr, sehr langen Prozesses ist, der sich über Millionen und Milliarden von Jahren erstreckt.

Andererseits müssen wir, wenn wir die Geschichte der Evolution des Lebendigen auf der Erde ernst nehmen, davon ausgehen, dass Prozesse am Werk sind, die natürliche Unterschiede hervorbringen. Die Evolution des Lebendigen ist der Mechanismus, der Biodiversität hervorbringt, oder besser gesagt, Biodiversität ist der Prozess der Erzeugung natürlicher lebender Neuheiten im Laufe der Zeit sowie dessen Ergebnis. Warum ist es wichtig, das biologische Leben zu verstehen? Auf einer tieferen Ebene bedeutet dies, dass Biodiversität die Antwort auf ein sehr ernstes Problem ist: die Suche nach Mitteln zum Überleben und zur Widerstandsfähigkeit gegenüber Angriffen. Die Ausbreitung des Lebens auf der Erde hängt von seiner Fähigkeit ab, sich je nach den verschiedenen Umweltbedingungen und Aggressionen der Umwelt zu verändern. Wäre das Leben nämlich die Reproduktion des immer selben, dann wäre es doch besser, Mittel zur Anpassung an eine Aggression zu finden, die sonst aufgrund einer Reihe von Schwächen der Organismen zu deren Tod führt. Diese Anpassungen sollten eine Reihe von Merkmalen aufweisen, von denen einige in der Lage wären, der Aggression zu widerstehen. Diversifizierung ist eben diese Anpassung und Widerstandsfähigkeit des Lebens in einer aggressiven Umgebung.

Die Produktion natürlicher Neuerungen ist jedoch ein sehr zeitaufwändiges Unterfangen, das von dem von Darwin[8] beschriebenen Mechanismus der natürlichen Selektion abhängt. Das bedeutet, dass, wenn die Fähigkeit zur Produktion von Neuem durch einen zu großen Druck seitens der Umwelt bedroht ist, die Widerstandsfähigkeit des Lebens gefährdet ist. Und genau um dieses Problem geht es bei der Frage der Biodiversität. Das Ausmaß des Verlustes an Biodiversität aufgrund menschlicher Aktivität ist zu groß im Vergleich zu der Fähigkeit der Natur, sich zu regenerieren und Neues zu schaffen, um dies zu kompensieren. In diesem Fall bedeutet die Sorge um Biodiversität die Sorge um die Fähigkeit des Lebendigen, Vielfalt zu erzeugen.

Von hier aus können wir erkennen, dass der innere Zweck des Lebendigen Vielfalt hervorbringt. Doch haben wir eine Ahnung, wie dies erfolgt? Es geschieht vermittelt durch ökologische Beziehungen.

2. Alles ist miteinander verbunden

Für Darwin beruht natürliche Auslese auf dem Wettbewerb zwischen Individuen und zwischen Arten um den Besitz der Ressource Nahrung [9]. Innerhalb einer Population kommt auch der Wettstreit um Fortpflanzung ins Spiel [10]. Wettbewerb, Ernährung und Fortpflanzung sind aber nur drei mögliche ökologische Beziehungen. Später fanden die Ökologen heraus, dass diese Beziehungen sehr zahlreich und komplex sind: Raub, Gegenseitigkeit, Symbiose, Bestäubung sind weitere Beispiele für mögliche ökologische Beziehungen zwischen Lebewesen. Zu den ökologischen Beziehungen gehören auch die Wechselwirkungen zwischen Lebewesen und trägen (d.h. mineralischen) Wesen. Dazu gehören die Beziehungen zum Boden, zur Atmosphäre und zum Wasser. Man kann auch Licht hinzufügen. Die Beziehungen bilden ein Netz von Wechselwirkungen, das eine große Komplexität aufweist. Darin können neue Merkmale entstehen, die je nach Umwelt selektioniert werden.

Wenn das Entstehen neuen Seins von der Stärke und Kraft dieser Beziehungen abhängt, dann muss man verstehen, dass diese Beziehungen für die so geschaffene Neuartigkeit nicht etwa zufällig sind. Sie sind vielmehr wesentlich. Ich meine damit, dass ohne ökologische Beziehungen Lebewesen überhaupt nicht existieren könnten. Die Neuartigkeit ist es, die die Vielfalt unter den Lebewesen hervorbringt. Es ist also klar, dass es ohne ein ökologisches Netz komplexer Beziehungen keine Biodiversität gibt. Als ethische Schlussfolgerung aus dieser kurzen Darstellung ist es wichtig zu verstehen, dass der Schutz der ökologischen Beziehungen innerhalb eines Ökosystems gleichbedeutend ist mit dem Schutz oder der Pflege der Biodiversität.

Jede Art und sogar jedes Individuum in einem Ökosystem liefert eine Reihe von Inputs, die das Netz der ökologischen Beziehungen nähren. Diese Inputs sind als Inputs für das gute Funktionieren des Gesamt- (Öko-)Systems zu verstehen. Umgekehrt ist jede Einheit, aus der sich das Ökosystem zusammensetzt, von der Gesundheit des komplexen Netzes ökologischer Beziehungen abhängig, das in dem betreffenden Habitat wirkt. Es ist ein Grundprinzip der Landethik von Aldo Leopold [11], dass einer solchen Gemeinschaft von interagierenden Wesen und dem Beitrag eines jeden Wesens zum Wohl des gesamten Systems ein ethischer Wert beigemessen wird. Dies ist bereits an und für sich gut, nicht nur gemessen an menschlichen Bedürfnissen, außer in einer abgeleiteten Perspektive, denn ohne dies ist ja kein menschliches Leben möglich. Aber die ökologischen Beiträge eines jeden Lebewesens sind auch in sich selbst gut, weil sie den inneren Zweck der Biodiversität erfüllen: die Dauerhaftigkeit des biologischen Lebens auf der Erde. Und ob sie es glauben oder nicht, aus christlicher Sicht hat dies einen hohen theologischen Wert.

III. Die Notwendigkeit von Biodiversität, um die frohe Botschaft der Schöpfung zu bewahren

1. Intrinsischer Wert von Lebewesen

Ökotheologie ist in Partnerschaft mit Ökophilosophie an der Kritik der anthropozentrischen Ethik beteiligt, die die Menschheit in die ökologische Krise geführt hat [12]. Siehe als Beispiel den wichtigen Beitrag von Papst Franziskus in seiner Enzyklika: Laudato si, über die Sorge für unser gemeinsames Haus [13]. Im dritten Kapitel der Enzyklika kritisiert Franziskus scharf die instrumentelle Vernunft, die dazu geführt hat, nur den instrumentellen Wert der nicht-menschlichen Wesen zu berücksichtigen. Als Antwort auf dieses problematische ethische Paradigma schlägt er das Prinzip des Eigenwertes (LS 118) der Geschöpfe allein durch ihre Schöpfung vor, welcher von jeglichem menschlichen Gebrauch unabhängig ist. Der Wert der Geschöpfe wurzelt in einer starken theologischen Behauptung: Die Schöpfung ist in den Augen Gottes gut, und das wird in Gen 1 an jedem Tag der Schöpfungserzählung verkündet. Hier steht die Theologie im Einklang mit ökologischen Überlegungen und bietet sogar eigene Argumente, um die Kritik an der instrumentellen Vernunft und die Behauptung eines nicht-instrumentellen Wertes der natürlichen Wesen zu stärken. Man kann also sagen, dass die Menschheit diesen Eigenwert der Geschöpfe erkennen muss, um zu verstehen, warum es wichtig ist, zur Bewahrung der Schöpfung auch auf Biodiversität zu achten.

Es lassen sich aber noch weitere passende Argumente zum Zusammenhang zwischen ökologischen Beziehungen, Biodiversität und Theologie finden.

2. Biodiversität als Zeichen einer kontinuierlichen Schöpfung

Biodiversität als Prozess spricht von einer inneren Kreativität der Natur. Neue natürliche Einheiten entstehen in und durch das komplexe ökologische Beziehungsgeflecht. Die Quelle dieser Neuartigkeit verwundert. Wäre die Neuartigkeit in der Natur das Signal eines göttlichen Schöpfungsaktes in der Zeit? Es scheint möglich zu sein, dass es eine komplexe Beziehung zwischen Gott und der Schöpfung gibt, bei der Gott die Fähigkeiten der natürlichen Wesen nutzt, um neue Wesen zu schaffen. Der schöpferische Akt ist als eine Art Dialog zwischen Schöpfer und Geschöpf zu betrachten. Der Dialog besteht dann in einem ständigen Vorschlag von Neuheiten durch Gott und einer ständigen Sortierung der Neuheiten durch die Geschöpfe, entsprechend dem jeweiligen Status des Entwicklungsprozesses und dem Umfang des Spektrums der Möglichkeiten, das er festlegt und umschreibt [14].

Aus dieser Perspektive ist Biodiversität von höchstem theologischem Wert, weil sie als ein deutliches Zeichen dafür interpretiert werden kann, dass Gott noch immer an einer ständigen Schöpfung neuer Geschöpfe in der Welt beteiligt ist. Theologen bezeichnen dies als kontinuierliche Schöpfung [15]. Im päpstlichen Text von Laudato si kommtdies in Absatz 80 erneut zum Ausdruck:

Er ist im Innersten aller Dinge zugegen, ohne die Autonomie seines Geschöpfes zu beeinträchtigen, und das gibt auch Anlass zu der legitimen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten. Diese göttliche Gegenwart, die das Fortbestehen und die Entwicklung allen Seins sicherstellt, „ist die Fortsetzung des Schöpfungsaktes“.[16] Der Geist Gottes erfüllte das Universum mit Wirkkräften, die gestatten, dass aus dem Innern der Dinge selbst immer etwas Neues entspringen kann: „Die Natur ist nichts anderes als die Vernunft einer gewissen Kunst, nämlich der göttlichen, die den Dingen eingeschrieben ist und durch die die Dinge sich auf ein bestimmtes Ziel zubewegen: so, als könne der Schiffsbauer dem Holz gewähren, dass es sich von selbst dahin bewegt, die Form des Schiffes anzunehmen.“[17]

Hier wird angedeutet, dass der Prozess der kontinuierlichen Schöpfung die Nähe der Gegenwart Gottes in der Schöpfung manifestiert, entsprechend der Vorstellung, dass es sich dabei um ein besonderes Werk des Heiligen Geistes handelt, der im konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis als "Lebendigmacher" betrachtet wird. Und aus der Sicht von Pierre Teilhard de Chardin ist spirituelle Energie in der Schöpfung am Werk, indem sie die Dinge zusammenführt [18]. Auch für Teilhard bedeutet Schöpfung, die Dinge in Beziehung zueinander zu setzen.

Auf ethischer Ebene bedarf die Menschheit nicht der Biodiversität, sondern der Einbeziehung in den Prozess der Erzeugung von Vielfalt in der Natur, weil sie Partner der kontinuierlichen Schöpfung werden kann. Andernfalls wird sie, indem sie die Verbindungen zwischen den Lebewesen in einem Ökosystem unterbricht und sich am Verlust von Biodiversität beteiligt, zum Gegner der kontinuierlichen Schöpfung und damit zum Sünder, der sich dem Schöpfungsplan Gottes widersetzt.

Aber Biodiversität hat noch eine weitere Bedeutung, die eine Synthese der beiden vorangegangenen Argumente darstellt. Biodiversität hat und ist eine ganz eigene theologische und spirituelle Botschaft.

3. Schöpfung als Zeuge von Gottes Herrlichkeit

Als Ergebnis der kontinuierlichen Schöpfung erfüllt Biodiversität ein großes Ziel und einen Zweck der Schöpfung: die Manifestation von Gottes Herrlichkeit darin. Auch hier hat die christliche Theologie in ihrer Geschichte seit der Bibel (Ps 18,1-) bis heute nichts anderes behauptet, und zwar durch die Beiträge von Kirchenvätern, mittelalterlichen Denkern, Reformatoren und modernen Naturtheologen. Aber auch hier ist einer der jüngsten Beiträge zu diesem Thema in Laudato si zu finden (wobei übrigens ein mittelalterlicher Theologe zitiert wird):

Die Gesamtheit des Universums mit seinen vielfältigen Beziehungen zeigt am besten den unerschöpflichen Reichtum Gottes. Der heilige Thomas von Aquin hob weise hervor, dass die Vielfalt und die Verschiedenheit „aus der Absicht des Erstwirkenden“ entspringen, der wollte, dass „das, was dem einen zur Darstellung der göttlichen Güte fehlt, ersetzt werde durch das andere“ [19], weil seine Güte „durch ein einziges Geschöpf nicht ausreichend dargestellt werden kann“ [20]. Deshalb müssen wir die Verschiedenheit der Dinge in ihren vielfältigen Beziehungen wahrnehmen. Man versteht also die Bedeutung und den Sinn irgendeines Geschöpfes besser, wenn man es in der Gesamtheit des Planes Gottes betrachtet (LS 86).

Biodiversität ist einer der Hauptaspekte der Manifestation nicht nur der Herrlichkeit Gottes, sondern auch seines Wissens, seiner Güte (in der Großzügigkeit der verschiedenen Formen des Seins), seiner Vollkommenheit und seines Wohlwollens. Ja, der Mensch braucht also Biodiversität, denn sie kann uns helfen, Gott die angemessene Ehre zu erweisen. Die Beteiligung am Verlust von Biodiversität ist ein menschlicher Beitrag zur Verringerung der göttlichen Manifestationen in der Schöpfung und kann wiederum als Sünde betrachtet werden.

Schlussfolgerungen

Wenn die Menschheit auf lange Sicht überleben will, muss sie sich um Biodiversität kümmern. Die Menschheit braucht Biodiversität. Aber es wäre eine schlechte Herangehensweise an dieses Thema, wenn dies alles wäre, was gesagt werden kann. Das wichtigste und wirksamste ethische Mittel ist die Anerkennung der Tatsache, dass Biodiversität and und für sich wesentlich ist, und nicht nur, weil die Menschheit sie eventuell braucht. Die ökologische Philosophie kann dem Menschen helfen, die ihm innewohnende Verwandtschaft und Interdependenz mit den ökologischen Netzwerken, die aus Elementen von Biodiversität bestehen, zu erkennen. Die Theologie kann dabei helfen, indem sie davon ausgeht, dass Biodiversität einen Großteil der Güte Gottes erkennen lässt. Tiefer gehend muss die Menschheit am Prozess der Erzeugung der Biodiversität teilhaben, damit sie ihre Aufgabe als gute Bewahrerin und Verwalterin der Schöpfung erfüllen kann, indem sie sich an der kontinuierlichen Schöpfung beteiligt und auf diese Weise der Schöpfung hilft, ihr Ziel zu erreichen, welches die Manifestation von Gottes Herrlichkeit in der Schöpfung ist. Letztlich braucht der Mensch Biodiversität, weil sie ihm hilft, Gott zu verherrlichen, der in der Vielfalt der Geschöpfe etwas von sich selbst zeigt.

Fabien Revol
Publiziert im April 2023

Fabien Revol ist Doktor der Theologie, Doktor der Philosophie und hat einen Master in Populations- und Ökosystembiologie. Er ist Professor für Moraltheologie der Ökologie an der Katholischen Universität von Lyon. Er ist Mitglied der interdisziplinären Forschungsgruppe "Integrale Entwicklung, Ökologie und Ethik" der Forschungsabteilung seiner Universität. In seinem Fachgebiet hat er 2020 zwei Artikel in "Zygon" (zum Thema "Kontinuierliche Schöpfung") und 2021 einen Artikel in "Theology and Science" veröffentlicht.

This article is also available in its original English version.

Anmerkungen

[1] IPBES (2022). Summary for policymakers of the methodological assessment of the diverse values and valuation of nature of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES), https://zenodo.org/record/6522393#.Y72mExWZPcu (eingesehen am 10/01/2023).

[2] Kant, E. (1996). Fondements de la métaphysique des mœurs. Paris: Librairie Delagrave. S. 179-192.

[3] Guardini, R. (1965). Das Ende der Neuzeit. 9. Auflage. Würzburg, S. 87.

[4] Lovelock, J.E. & Margulis, L. (1974) "Atmospheric homeostasis by and for the biosphere: the Gaia hypothesis", Tellus, 26(1-2), S. 2-10.

[5] Jonas, H. (1987). Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Insel Verlag 7.Aufl., S. 36.

[6] Gretchen, C. D and P.A. Matson. (2008). ‘Ecosystem services: From theory to implementation’, PNAS 105, no. 28, S. 9455-9456.

[7] Marris, V. (2010). Philosophie de la biodiversité. Petite éthique pour une nature en péril (Coll. Écologie). Paris: Buchet Chastel. pp. 68-69.

[8] Darwin, C. ([1859] 1992). L’Origine des espèces au moyen de la sélection naturelle ou la préservation des races favorisées dans la lutte pour la vie. Texte établi par D. Becquemont à partir de la traduction de l’anglais d’E. Barbier. Paris: Flammarion.

[9] Darwin C. ([1859] 1992). L’Origine des espèces. S. 101.

[10] Darwin, C ([1873] 2012). La Descendance de l’homme et la sélection sexuelle (Coll. Sciences). traduit de l’anglais par J-J Moulinié. Paris: Hachette Livre BNF. 2 vol.

[11] Leopold. A. (1968²). A sand county Almanach, and Sketches Here and There, Oxford University Press. S. 202-203.

[12] White. L. jr. (1967). ‘The Historical Roots of Our Ecological Crisis’. Science 155. S. 1203-1207; Larrère C. (2010). ‘Les éthiques environnementales’. Natures Sciences Sociétés 18. S. 407.

[13] Papst Franziskus. (2015). Enzyklika: Laudato si, Über die Sorge für das gemeinsame Haus (Abgerufen am 21/02/2023). 

[14] Revol F. (2020). ‘The Concept of Continuous Creation Part II: Continuous Creation: Toward a Renewed and Actualized Concept’. Zygon 55/1. S. 251-274.

[15] Revol F. (2020). ‘The Concept of Continuous Creation Part I: History and Contemporary Use’. Zygon 55/1. S. 229-250.

[16] Thomas Aquinas. Summa Theologiae, I, q. 104, art. 1 ad 4.

[17] Thomas Aquinas. In octo libros Physicorum Aristotelis expositio, Lib. II, lectio 14.

[18] Teilhard de Chardin P. (2002). Toward the Future. Trans. R. Hague. San Diego/New York: Hartcourt. S. 195-196.

[19] Thomas Aquinas. Summa Theologiae, I, q. 47, art. 1.

[20] Idem.

Bildnachweis

  • Biodiversity collage : Adobe Stock # 44069811 © Yü Lan

  • Shelter for insects made with natural materials in the city park: Adobe Stock # 320541985 © diesirae

  • Biodiversity conservation - wildflower borders along farm fields to support pollinators and other wildlife (Jutland, Denmark) : Adobe Stock # 373901968 © Ines Porada

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