Willensfreiheit als neurobiologisches, philosophisches und theologisches Problem
Leitartikel von Birgitta Annette Weinhardt
Über die Frage der Willensfreiheit debattiert die Philosophie seit ihren Anfängen. Aber noch heute gibt es keine paradigmatische Antwort, so dass noch immer hitzig über dieses Problem diskutiert wird. Im 20. Jahrhundert verschärften neurobiologische Erkenntnisse den Streit (sehr medienwirksam etwa im Manifest der Hirnforschung, 2004). In der Naturwissenschaft wird das Thema Willensfreiheit unter der Fragestellung bearbeitet, wie sich Geist und Gehirn, Mentales und Materielles im Prozess der Entscheidungsfindung zueinander verhalten. Ist die bewusste Entscheidung von unbewusssten Gehirnvorgängen determiniert oder nicht?
Besonders bekannt wurden die Experimente von Libet, der seine Versuchspersonen aufforderte, genau zu dem Zeitpunkt ihre Hand zu heben, wann sie sich zu einer Bewegung entscheiden. Am Schädel der Probanden wurde das elektrische Bereitschaftspotential gemessen. Gleichzeitig zeichnete Libet ein Elektromyogramm von der Handmuskulatur der Versuchspersonen auf. Außerdem sollten sich die Versuchspersonen anhand einer Oszilloskop-Uhr den Zeitpunkt merken, an dem sie sich zur Handbewegung entscheiden.
Das Ergebnis der Experimente: Das Bereitschaftspotential tritt bis zu 550 ms vor der Bewegung auf, der Zeitpunkt der Entscheidung aber ca. 200 ms vorher. Das Bereitschaftspotential ging der Entscheidung also voraus. Dieser Befund sprach gegen die Möglichkeit einer bewussten Bewegungsauslösung. Dennoch meinte Libet, der bewusste Wille könne die Bewegung zuletzt doch noch unterdrücken. Dafür konnte er jedoch keine experimentellen Daten vorlegen, sondern lediglich auf subjektive Eindrücke einzelner Probanden verweisen.
Libets Experimente wurden später mit verfeinerten Messmethoden wiederholt, etwa durch Haggard/Eimer, in neuerer Zeit durch John Dylan Haynes. Haynes entwarf ein zweiteiliges Experiment, das Libets Veto-Hypothese überprüfen sollte. Die Versuchspersonen sollten zunächst auf ein grünes Licht achten, das nach einem unberechenbaren Zeitraum auf Rot wechselte. Die Probanden sollten einen Fußschalter betätigen, solange das Licht noch grün war. Sie bekamen Gewinnpunkte, wenn es ihnen gelang. Während des Versuchs trugen sie eine Elektrodenkappe, die ihre Hirnströme maß. So konnte die Dauer des ansteigenden Bereitschaftspotentials für den Fußdruck gemessen werden. (Dieses Bereitschaftspotential ist dasselbe wie bei Libets Experiment).
Beim zweiten Durchgang wussten die Probanden, dass ihr Bereitschaftspotential für den Fußdruck registriert wird. Das rote Licht leuchtete nun auf, sobald das BP sich bildete. Die Probanden sollten bei Rot versuchen, den Fußdruck zu unterlassen. Haynes wollte herausfinden, ob sie die Bewegung noch stoppen konnten, nachdem in ihrem Gehirn das Bereitschaftspotential gemessen wurde.
Tatsächlich schafften es die meisten Probanden, ihren Fußdruck nach dem Farbwechsel zu unterlassen. Die geplante Handlung konnte also nach dem Bereitschaftspotential noch vermieden werden.
Haynes Versuchsinterpretation lautete: Die Probanden konnten aktiv in den geplanten Handlungsablauf eingreifen und die Handlung abbrechen: Sie seien den frühen Hirnwellen nicht unkontrollierbar unterworfen. Allerdings gebe es einen point of no return: Entschied sich eine Versuchsperson weniger als 200 Millisekunden vor der Bewegung, konnte sie diese nicht mehr stoppen. Ab diesem Zeitpunkt verlaufe die Befehlskaskade an die Muskeln vollautomatisch und könne nicht mehr unterbrochen werden. Als einzige Einflussmöglichkeit verblieb den Probanden, am Fußschalter vorbeizutreten.
So thematisiert die Neurobiologie die Möglichkeit von Willensfreiheit im Zusammenhang von bewussten Entscheidungen und unbewussten Gehirnvorgängen.
Willensfreiheit in der Philosophie
Die Philosophie versucht dagegen, die strittige Frage logisch zu klären: Ist der Begriff der Willensfreiheit überhaupt denkmöglich, und falls ja, wie lautet ihre exakte Definition?
Zunächst unterscheidet die Philosophie zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit. Handlungsfrei ist eine Person, wenn sie ohne äußeren Zwang agieren kann. Demnach handelt etwa ein Bankangestellter nicht frei, wenn er einem Bankräuber, der ihn mit einer Waffe bedroht, den Inhalt des Tresors aushändigt. Auf Handlungsfreiheit basiert auch die Demokratie. Eine Person muss beispielsweise ihre Meinung frei äußern und ihre Religion frei ausüben können, ohne staatliche Einschränkung.
Problematischer als der Begriff der Handlungsfreiheit ist der der Willensfreiheit. Denn er enthält drei Vorstellungen, die sich gegenseitig ausschließen. Die analytische Philosophie arbeitet dieses Trilemma der Vorstellungen heraus und versucht, mit den Widersprüchen umzugehen. Die Vorstellungen passen nämlich nicht zueinander.
Das erste inuitive Kriterium für „Willensfreiheit“ lautet: In einer Entscheidungssituation muss jemand sich für zwei verschiedene Optionen gleich gut entscheiden können. Besteht die Wahlmöglichkeit zwischen Oper oder Kino, und hat sich eine Person für die Oper entschieden, dann hätte sie sich auch gleich gut für das Kino entscheiden können müssen. Diese intuitive Vorstellung wird als Alternativismus bezeichnet.
Zweitens muss eine willensfreie Person aus nachvollziehbaren Gründen und nicht willkürlich handeln. Wählt unsere Person die Oper, müsste sie angeben können, aus welchen Gründen sie dies tat. Diese Eigenschaft einer freien Entscheidung heißt Intelligibilität.
Die dritte Vorstellung ist die Urheberschaft. Sie besagt, dass die Entscheidung einer Person nicht auf Bedingungen zurückgeht, die schon vor ihrer Geburt vorlagen. Das setzt voraus, dass der Determinismus falsch ist. Determinismus besagt, dass alles, was geschieht, deswegen geschieht, weil es von früheren Ereignissen genau so verursacht wird.
Die Widersprüchlichkeit dieser drei Bedingungen von Willensfreiheit zeigt sich beispielsweise am Verhältnis von Alternativismus und Intelligibilität: Der Alternativismus fordert, dass eine Person unter den gleichen Umständen zwei mögliche Handlungsoptionen gleich gut auswählen können muss. Das Kriterium der Intelligibilität fordert hingegen, dass die getroffene Entscheidung gut nachvollziehbar begründet ist. Nun gilt aber in unserem Beispielfall diese Alternative:
Entweder sind im Zeitpunkt A die Gründe für die Oper und die Gründe für das Kino unterschiedlich stark für unsere Person - oder es sind im Zeitpunkt A die Gründe für die Oper und für das Kino gleich stark.
Im ersten Fall gilt: Weil die Gründe unterschiedlich stark sind, wird sich die Person für die stärker begründete Alternative entscheiden. Sonst wäre ihre Wahl nicht intelligibel. Damit besteht aber kein echter Alternativismus. Denn laut diesem muss die Person sich gleich gut für Oper und für Kino entscheiden können.
Andernfalls gilt: Wenn die Person die alternativen Handlungen gleich gut auswählen könnte, wäre es nicht nachvollziehbar, warum sie sich gerade für die eine und nicht für die andere Handlung entschieden hat. Dann ist zwar der Alternativismus erfüllt, aber nicht das Intelligibilitätskriterium.
Eine weitere Komplikation ergibt sich, wenn man berücksichtigt, in welcher Art von Welt die Willensentscheidungen stattfinden. Es macht einen grundsätzlichen Unterschied, ob in der Welt alle Ereignisse deterministisch verlaufen oder nicht. An dieser Grundentscheidung trennen sich die verschiedenen Theorien über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von echter Willensfreiheit.
Der primäre Unterschied heutiger philosophischer Positionen liegt in der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz des deterministischen Weltbildes. Determinismus besagt: Alle Vorgänge in der Welt, sowohl in der Außenwelt als auch im Menschen selbst, sind determiniert. Im Determinismus stehen damit alle zukünftigen Ereignisse jetzt schon fest. Wir können uns eine deterministische Welt wie eine riesige Dominoreihe vorstellen: Wurde sie richtig aufgebaut, werden nach dem Antippen des ersten Dominosteines garantiert alle weiteren bis zum letzten fallen.
Der Indeterminismus geht hingegen davon aus, dass der zukünftige Lauf der Welt noch nicht im Einzelnen feststeht. Denn es gibt echte Zufallsereignisse in der Natur. Je nachdem, wie ein zufälliges Ereignis ausfällt, wird es zu unterschiedlichen Folgewirkungen führen.
Verknüpfen wir nun die Kriterien für Willensfreiheit mit den beiden möglichen Weltbildern: Der Alternativismus ist im Determinismus undenkbar. Der einzelne Dominostein kann nicht anders, als fallen, und zwar genau so, wie er fallen muss.
Aber auch die Urheberschaftsbedingung lässt sich im Determinismus in ihrer intuitiven Form nicht rekonstruieren. Denn im Determinismus steht jede Handlung einer Person schon fest, noch bevor sie auf die Welt kommt.
Intelligibilität hingegen lässt sich mit dem Determinismus gut vereinbaren, wenn man die genannten Gründe einer Person als eine besondere Form von Ursachen auffasst. Wer im Determinismus die Gedanken einer Person vollständig kennen würde, könnte auch vorhersagen, was diese Person in einer beliebigen Situation tun wird.
Im Determinismus steht es also schlecht um das Konstrukt von Willensfreiheit. Denn es müssen ja alle drei Bedingungen für Willensfreiheit erfüllt sein. Sieht es im Indeterminismus besser aus? Leider nicht! Denn zwar brechen in einer indeterministischen Welt echte Zufallsereignisse die Ursache-Wirkungs-Ketten an manchen Stellen auf. Bei jedem Zufallsereignis kommt es zu einer Verzweigung des Weltlaufs. Ereignet sich ein Zufall auf die Weise (a), verursacht er eine andere Folgewirkung, als wenn er sich auf die Weise (b) ereignet hätte. Setzt beispielsweise P. sein Gesamtvermögen beim Roulette, wäre P.s finanzielle Existenz vollständig von einem Zufall abhängig. Ein einzelnes Zufallsereignis kann in diesem Weltbild zu extrem unterschiedlichen Zukunftsverläufen führen. Deswegen gibt es im Indeterminismus – im Gegensatz zum Determinismus – auch eine offene Zukunft.
Das indeterministische Weltbild unterstützt also den Alternativismus als Freiheitskriterium. Aber es verletzt die beiden anderen Kriterien für Willensfreiheit. Denn ein Zufall im geistigen Entscheidungsprozess ist kein guter Grund für eine Wahl. Damit ist die Intelligibilität der Entscheidung verletzt. Ferner geht eine zufallshaltige Entscheidung einer Person nicht vollständig auf sie selbst zurück. Denn über den Zufallsanteil ihrer Entscheidung kann sie nicht verfügen – sonst wäre es kein Zufall. Damit ist auch das Urheberschaftskriterium nicht erfüllt.
Willensfreiheit ist also weder im deterministischen noch im indeterministischen Weltbild denkbar. Ein drittes Weltbild aber gibt es nicht.
Konsequenzen
Die Philosophinnen reagieren auf diese Einsicht unterschiedlich: Die Deterministen lehnen die Möglichkeit von Willensfreiheit grundsätzlich ab und sind damit zufrieden.
Die Kompatibilisten akzeptieren den Determinismus ebenfalls. Wenn aber eine Person sich darum bemüht, ihre Entscheidungen auf gute Gründe zu stützen, dann bezeichnen sie diese Entscheidung als willensfrei im schwachen Sinn – implizit akzeptieren auch sie die Tatsache, dass es schon immer feststand, ob und nach welchen guten Gründen eine Person handelt.
Die Libertaristen behaupten, dass es echte Willensfreiheit geben müsse, weil das menschliche Leben sonst sinnlos wäre. Sie postulieren eine bisher unbekannte Grundlage ihres Standpunktes.
Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich die Position des illibertaren Indeterminismus entworfen. Auch hier wird die problematische Vorstellung von Willensfreiheit verworfen. Er ist aber dennoch keine reduktionistisch-materialistische Position. Anders als die Deterministen und die Kompatibilisten berücksichtige ich zusätzlich die Quantenphysik als Bezugswissenschaft. Deren indeterministische Zufallsereignisse auf der (sub)atomaren Ebene können auch in der menschlichen Lebenswelt zu biografischen Zufällen führen. Damit ist der Kompatibilismus und der Determinismus als Position zurückgewiesen, ohne dem Libertarismus Recht zu geben.
Aber im illibertaren Indeterminismus kann das Fatalismusproblem aufgelöst werden, das den existenziell problematischen Kern des Determinismus bildet. Denn im Determinismus steht die Zukunft jeder Person schon vor ihrer Geburt in allen Einzelheiten fest. Natürlich weiß niemand, wie diese Zukunft sein wird. Aber alle Menschen können wissen, dass von allen Wünschen und Hoffnungen jetzt schon feststeht, ob sie sich verwirklichen werden oder nicht. Trotz allen Engagements könnte es sein, dass man am Ende an allem gescheitert sein wird.
Diese Problematizität lässt sich noch unter drei Aspekten differenzieren:
Beim präsentischen Aspekt steht jemand in der aktuellen Situation, ein schweres Problem lösen zu müssen. Er könnte sich wie in einem Hamsterrad fühlen: Alle Energie ist notwendig, um eine zielführende Entscheidung zu finden - aber alle Mühe ändert nichts an dem feststehenden Ergebnis.
Unter dem prospektiven Aspekt entscheidet sich ein Mensch möglicherweise für einen mühsamen Weg in die Zukunft. Er weiß aber, dass dieser Weg schon jetzt zum Scheitern verurteilt sein könnte. Diese Einsicht könnte sich auf seine Motivation negativ auswirken.
Retrospektiv betrachtet, könnte jemanden angesichts enttäuschter Lebenshoffnungen die Verbitterung befallen bei dem Gedanken, dass dieser Ausgang von Anfang an feststand.
Im Rahmen des illibertaren Indeterminismus kann dieses Fatalismusproblem aufgelöst werden. Hier gilt ja: Die Zukunft ist offen. Es kann sich daher lohnen, klug zu entscheiden, obwohl es keine freie Entscheidung gibt.
Unter dem präsentischen Aspekt gilt: Es ist zielführend, sich auf zukünftige Handlungsfelder sorgfältig vorzubereiten. Je mehr Kompetenzen ab jetzt erworben werden, desto höher ist die Aussicht, zukünftig erfolgreich zu agieren.
Prospektiv betrachtet, kann die Resignation beseitigt werden. Anspruchsvolle Ziele können prinzipiell erreicht werden, solange sie überhaupt möglich sind. Bei keinem besteht das Risiko, sich von vorneherein aussichtslos zu bemühen.
Retrospektiv gilt selbst bei Misserfolg: Wer gescheitert ist, ist nicht von Anfang an ins Leere gelaufen.
Der illibertare Indeterminismus versteht also die Welt als ein Geflecht von naturwissenschaftlichen, sozialen und geistigen Gesetzen und Regelmäßigkeiten, die von Zufallsereignissen unterbrochen sind. Willensfreiheit ist ein unmöglicher Begriff, doch weder die Welt noch menschliche Biografien unterliegen dem Determinismus.
Das Bedürfnis nach möglicher Veränderung der Lebensumstände, ist in der Regel mit der Idee der Willensfreiheit verbunden. Der illibertaren Indeterminismus kann diesem Bedürfnis gerecht werden, ohne Willensfreiheit vorauszusetzen. Hierbei wird auch eine wichtige neurobiologische Erkenntnis relevant: Die Plastizität des Gehirns. Unser Gehirn ist kein statisches Gebilde, es kann sich über die gesamte Lebensspanne hinweg verändern. Sämtliche Umwelteinflüsse können sich auf unser Gehirn auswirken. Personen können uns nachhaltig prägen, und das nicht nur im Kindesalter. In einer indeterministischen Welt steht nun aber auch nicht fest, wem ich in Zukunft begegnen werde; auch nicht, welche Person ich in Zukunft sein werde. Selbstverständlich liegt es aber auch nicht in meiner Hand, über meine gesamte Zukunft beliebig verfügen zu können. Es gibt keine Garantie für ein gelingendes Leben.
Willensfreiheit in der Theologie
Damit kommen wir zu den theologischen Gedanken zum Thema Willensfreiheit. In der christlichen Theologiegeschichte sind dabei Paulus, Augustin und die Reformatoren wichtig. Allerdings bearbeiteten sie das Thema nicht auf der allgemein-anthropologischen Ebene. Sie interessierten sich vorwiegend für die Relevanz des Willensvermögens bei der Konstituierung desjenigen Gottesverhältnisses, das zum ewigen Heil führt. Die Frage nach einem gelingenden Leben bezieht sich gegen alle modernen Trends auf die postmortale Existenz.
Luthers Gegner, Erasmus von Rotterdam, hält die Willensfreiheit zunächst aus moralischen Gründen für notwendig, durchaus auch um des öffentlichen Wohles willen. Was nütze es, Regeln aufzustellen, wenn es gar nicht in der Willensfreiheit des Menschen liege, sie zu befolgen? Aber auch hinsichtlich des jüngsten Gerichts sei diese moralische Perspektive wesentlich. Nach Erasmus wirken der menschliche Wille und die göttliche Gnade so zusammen, dass beide einen unabhängigen, wenn auch quantitativ sehr unterschiedlichen Heilsfaktor darstellen. Daher könne, wenn ein Mensch ungläubig sterbe und deswegen verdammt werde, Gott vom Vorwurf der Ungerechtigkeit freigesprochen werden. Umgekehrt gelte aber nicht, dass der Mensch es sich selbst zuschreiben könne, wenn er aufgrund seiner Bußleistung ins Reich Gottes gelange.
Bei Luther hingegen ist es alleine Gott, der die Buße und den Glauben des Menschen bewirkt, und damit seine Erlösung. Weil das Heil ganz von Gott herkommt, ist die Willenstätigkeit des Menschen als rein passiv hinnehmend zu beschreiben. Er hat weder den Spielraum dafür, das Geschenk des Glaubens aktiv anzunehmen oder abzulehnen, vielmehr wird er schlichtweg von ihm hingerissen. Diese Art der Motivation führt zu einer Neuausrichtung des Lebens in Nächsten- und Gottesliebe. Weil der Wille angesichts dieses Geschenkes keinen Handlungsspielraum hat, wird er als unfrei bezeichnet. Für die Entdeckung der Rechtfertigung sola gratia ist Luther heute noch sehr bekannt. Regelmäßig wird in diesem Zusammenhang erwähnt, dass er den barmherzigen Gott wiederentdeckt habe.
Angesichts dieses Lutherbildes führt seine Schrift De servo arbitrio regelmäßig zu Irritationen. Denn sie enthält deutlich wahrnehmbare Härten im Gottesbild. Luther hat nämlich nicht nur den Glauben als göttliches Geschenk betrachtet. Er scheut sich auch nicht zu sagen, dass Gott nicht allen Menschen den Glauben ermögliche. Die Ungläubigen aber werden in der Hölle brennen. Luther folgt Augustin darin, dass Gott schon vor der Schöpfung entschieden habe, welchem Menschen er die Gnade des Glaubens schenken wird und welchem nicht. Damit steht für jeden Menschen schon seit vor seiner Geburt fest, an welchem der beiden Orte er ewig sein wird.
Kein Wunder, dass die evangelische Theologie die volle lutherische Auffassung kaum noch vertritt. Bereits Melanchthon wich an diesem Punkt von Luther ab. Heute allerdings weist der Dialog mit der Neurobiologie und der Philosophie ja darauf hin, dass die allgemein-anthropologische Annahme eines freien Willens äußerst problematisch ist. Wie kann sich die gegenwärtige Theologie in Übereinstimmung mit den aktuellen Erkenntnissen auf ihre reformatorische Tradition zurückbesinnen, ohne dabei in derselben Problematik zu enden? Dafür müssen wir uns noch etwas ausführlicher den eschatologischen Vorstellungen widmen, die bereits bei dem Streit zwischen Luther und Erasmus im Zentrum standen.
Bei der Frage, wie ein Mensch ewiges Heil erlangen kann, fließen Annahmen über Gottes Eigenschaften ein, sowie Vorstellungen über die Art des menschlichen Mitwirkens am Heil. Es ist möglich, drei Positionen (darunter auch die von Luther und Erasmus) anhand von drei Thesen zu strukturieren, die nicht alle gleichzeitig wahr sein können. Die Positionen unterscheiden sich darin, welche der drei Aussagen bestritten wird.
Hier zunächst die Thesen im Einzelnen:
(a) Der Glaube mitsamt seiner Entstehung ist ein reines Geschenk Gottes. Es gibt dabei keinerlei menschliche Mitwirkung.
So dachten etwa Paulus, Augustin, Luther und Calvin. Nach ihnen gibt es keine Mitwirkung der Willensfreiheit bei der Glaubensentstehung. Glauben-Können verdankt sich ausschließlich Gottes Geschenk (sola gratia). Seine Gnade erschließt sich einem Menschen in so überzeugender Weise, dass er sich fröhlich in eine neue Grundausrichtung seiner Existenz versetzt erfährt.
(b) Wer nicht glaubt, wird auf ewig verdammt.
Diese Aussage gilt in den meisten christlichen Konfessionen als selbstverständlich. Die Angst vor einer ewigen Höllenqual war in allen Epochen des Christentums präsent.
(c) Gott ist barmherzig.
Hierbei handelt es sich um eine biblische Grundaussage.
Auf die folgende Weise schließen nun je zwei dieser Sätze den dritten logisch aus:
Kombination I:
> Der Glaube inklusive seiner Entstehung ist ein reines Geschenk Gottes (a).
> Die Ungläubigen werden mit ewiger Verdammnis bestraft (b).
→ Gott ist nicht barmherzig, zumindest nicht aus der Sicht der Verdammten (gegen c).
Diese Kombination entspricht der Prädestinationslehre Augustins, Luthers und Calvins.
Kombination II:
> Die Ungläubigen werden mit ewiger Verdammnis bestraft (b).
> Gott ist barmherzig (c)
→ Der Glaube wird von Gott nicht einfach geschenkt. Eine menschliche Anstrengung (Werk) ist notwendig und möglich (gegen a).
Diese Kombination wurde in der Kirchengeschichte am häufigsten vertreten. Wenn Gott barmherzig ist, aber nicht allen Menschen den Glauben schenkt, dann ist notwendig eine menschliche Leistung möglich, die den Glauben mitbewirkt. Diese Position wurde von den (Semi)Pelagianern und verwandten Gruppen bevorzugt.
Kombination III:
> Der Glaube inklusive seiner Entstehung ist ein reines Geschenk Gottes (a).
> Gott ist barmherzig (c).
→ Die Ungläubigen werden nicht mit ewiger Verdammnis bestraft (nicht b).
Auch diese Kombination wurde in manchen Theologien und christlichen Gruppen realisiert. Das reformatorische sola gratia kam zu seinem vollen Recht, ebenso die Barmherzigkeit Gottes. An die Stelle der ewigen Höllenstrafe trat eine zeitlich befristete, postmortale Erziehungsstrafe. Diese Allerlösungslehre hatte ihre Vertreter in Origenes und seinen Schülern Gregor von Nyssa und Basilius dem Großen. Danach wurde sie verketzert. Seit dem radikalen Pietismus wird die Position zunehmend stärker vertreten. Karl Barth und von ihm beeinflusste Theologen tendieren ebenfalls zu ihr.
Regelmäßig wird gegen die Allerlösung eingewendet, dass die Opfer von schwerer Schuld nicht angemessen berücksichtigt werden. Aber in ihrem Rahmen ist stets ein „Purgatorium“ höherer Ordnung mitgedacht. Hier kommt es zu einer Art von Täter-Opfer-Ausgleich unter göttlicher Mediation. Die Strafe der Täter wird dabei zeitlich begrenzt und nicht verewigt wie bei der Höllenstrafe. Dadurch kann die Verhältnismäßigkeit von Schuld und Strafe wiederhergestellt werden, die durch die ewige Höllenstrafe unverhältnismäßig wird.
Vielleicht müsste unter diesem Aspekt das Verhältnis von göttlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit noch einmal neu reflektiert werden. Die Gegner der Allerlösung vermissen in deren Rahmen offenbar eine gewisse aktive Gerechtigkeit Gottes zugunsten der Opfer. In der vollständigen Form der Allerlösungslehre würde diesem Manko Rechnung getragen werden. Sie scheint die Balance zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes doch besser halten zu können als die Vorstellung einer ewigen Höllenstrafe, sei es nun für willensfreie oder prädestinatianisch gedachte Menschen.
Birgitta Annette Weinhardt
Publiziert im Juni 2024
Bildnachweis
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Gedanken zum Problem der Willensfreiheit
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Kommentare (1)-
Antworten
Sehr geehrte Frau Weinhardt,
HANS LAURENZ PROF. DR. SIXL
vor 3 WochenIhr Artikel hat mich veranlasst, einen eigenen Beitrag zum Thema Dualismus, Determinismus und freien Willen aus Sicht der Physik zu schreiben. Sie finden ihn im Internet unter tabularasa/autor/sixl. Meine Artikel zum Thema Theologie und Naturwissenschaften blieben alle von der evangelischen Akademie und allen anderen theologischen Instituten Instituten, die angeblich einen Dialog mit den Naturwissenschaften führen, unbeantwortet. Theologen und Philosophen gehen einem ernsthaften Dialog mit mir und den Naturwissenschaften aus dem Weg. Sie unterhalten sich nur mit Gleichgesinnten und gehen anderen Gedanken lieber aus dem Weg. Das sind meine Erfahrungen der letzten zwanzig Jahren.
Mit freundlichen Grüßen
Hans Sixl