Die Antwort auf die Anthropodizee?

Leitartikel von Michael Blume

Werden religiöse Mythologien durch wissenschaftliche Informationen überflüssig? Viele Menschen glauben dies immer noch. Dabei zeigt ausgerechnet die wissenschaftliche, interdisziplinäre Disziplin der Religionsdemografie immer massiver auf: Umso besser es Menschen geht und umso gebildeter sie im Durchschnitt sind, umso stärker stoßen sie an die philosophische Grundfrage der #Anthropodizee: Warum soll Leben weitergegeben werden, wenn doch jedes Leben ohnehin nur leidet und letztlich sinnfrei wieder stirbt? Auf diese Frage haben bislang nur religiöse Traditionen empirisch wirksame Antworten gefunden. Erkenntnistheoretisch befriedigende Lösungen dieses paradoxen Befundes stehen noch aus. Fehlen uns dazu Begriffe – oder Informationen?

Säugetiere geben genetische Informationen alleine durch sexuelle Fortpflanzung weiter. Diese genetischen Informationen enthalten dabei auch die Baupläne für die weiterwirkende Reproduktionslust unter den nachfolgenden Generationen.

So geht Evolution. Und so weit ist das auch alles unbestritten.

Nur hält sich eine bestimmte Säugetierart – Homo sapiens sapiens – nicht mehr an diese Formel. Ja, auch wir pflanzen uns bisher nur sexuell fort. Und ja, auch unsere Gene enthalten regelmäßig alle notwendigen Informationen dafür, dass wir sexuelle Bedürfnisse ausprägen – bisweilen sogar stärkere und andere, als wir dies wünschen würden.

Malthus hatte Unrecht: Dem Menschen ist „Lust ohne Last“ möglich

Aber indem unsere Vorfahren begannen, die Zusammenhänge zwischen Sexualität und Reproduktion zu begreifen, begannen sie auch, in den Prozess einzugreifen. Schon der biblische Onan praktiziert laut 1. Mose 38 den „Coitus interruptus“, um „Lust ohne Last“ genießen zu können. Und in den vergangenen Jahrtausenden sind immer mehr und leichtere Methoden der Verhütung hinzugekommen. Eine einfache Frage offenbart ein tiefes Bedürfnis nach Gründen, auf das die biologische Evolution niemals Antwort finden konnte: „War das ein Wunschkind, oder ein Unfall?“

Generationen von Gelehrten haben versucht, den Untiefen dieses riesigen Grabens auszuweichen, über den unsere Art in jeder Generation schreitet. Der einstige Pfarrer Thomas Robert Malthus (1766 – 1834) lehrte noch, dass die Menschheit dem gleichen „Bevölkerungsgesetz“ wie Tiere und Pflanzen unterläge. Darauf stützte sich dann auch der studierte Theologe Charles Darwin (1809 – 1882) bei der Entdeckung der Evolutionstheorie. Immerhin bemerkte sein christlich-spirituell angehauchter Mitentdecker Alfred Russel Wallace (1823 – 1913) im hohen Alter noch, dass der „Malthusianismus“ ein schrecklicher Irrtum war, der menschenverachtende Formen des Sozialdarwinismus, des Rassismus und der Eugenik angefeuert hatte. Tatsächlich genüge jedoch – so Wallace – Bildung und die freie Wahl der Liebespartner, um die Geburtenraten auf ein erträgliches Maß zu senken und die Qualität kommender Generationen in jeder Hinsicht zu gewährleisten.

Wer steuert die Liebe zum kommenden Leben?

Aber wie das? Wallace glaubte noch an einen stetigen Zustrom von Informationen von höheren Wesen wie Gott und Engeln, die in die Geschicke der Menschheit eingreifen würden. Heute aber sehen wir, dass auch diese Annahme nicht notwendig ist: Es reicht der gemeinsame, kulturell evolvierte Glauben von Menschen an bestimmte, höhere Wesen wie Ahnen, Geister und schließlich Gottheiten, um zwischen den Glaubenden ausreichend Motivationen und Vertrauen zu schaffen. In der Linie des mythischen Noah-Sohn Sem entstanden so schließlich auch die ersten, monotheistischen Gemeinschaften, die sich mit Berufung auf Gott selbst organisieren, intensiv zusammenarbeiten und kinderreich sind. Entsprechend erzittert auch schon der selbst noch halb-legendäre Pharao des 2. Buch Moses vor dem Potential der Hebräer. „Wir schaffen uns durch Toleranz ab – und die Semiten sind schuld!“ ist seitdem das Motiv praktisch aller antijüdischen, antichristlichen und auch antimuslimischen Antisemiten bis in unsere Zeit.

Ohne religiöse Überzeugungen gelingt kein Aufbau ausreichend kinderreicher Familien und Gemeinschaften

Wissenschaftlich gesehen aber bleibt der erstaunliche, empirische Befund: Religionen – und nur Religionen! – vermögen Menschen mit ausreichend Motivationen und Vertrauen auszustatten, um kinderreiche Gemeinschaften zu schaffen. Die Botschaft „Seid fruchtbar und mehret euch!“ in 1. Moses 1, 28 und explizit gegenüber Noahs Familie wiederholt in 1. Moses 9, 7 muss personal unterfüttert sein, von einem Wesen stammen. Von Prinzipien, Regeln, Darstellungen von Naturgesetzen alleine lassen wir uns das nicht sagen. Der Wissenschaft ist keine nichtreligiöse Population, Gruppe oder Gemeinschaft bekannt, die auch nur ein Jahrhundert lang die Mindestgrenze von 2,1 Kindern pro Frau hätte einhalten können. Wer den religiösen Himmel leerräumt, schafft mittelfristig auch die eigene Nachkommenschaft ab… Säkularisierung findet ebenso statt – wie atheistische Populationen dann auch wiederum verebben…

Die Anthropodizee-Frage

Philosophen verweisen hier auf die Relevanz der so genannten #Anthropodizee-Frage: Warum soll ich Leben weitergeben, wenn doch ohnehin alles Leben leidet, stirbt und irgendwann sinnfrei enden wird? Nichtreligiöse Weltanschauungen scheinen keine endgültigen Antworten auf die Anthropodizee-Frage formulieren zu können. Ihre Erzählungen dazu enden in der Kälte eines am Ende sinnlos sterbenden Universums.

Religiöse Traditionen verweisen dagegen auf ein göttliches Ziel der Geschichte, auf das hin jedes menschliche Leben sinnvoll, jedes Kind ein Segen und Geschenk sein kann. Entsprechend lehren und ritualisieren sie nicht nur den Segen von Familie, sondern unterstützen diese regelmäßig auch durch Angebote der Bildung, Betreuung und Heilung. In einigen Traditionen verzichten sogar manche Erwachsene – bisweilen religiös ritualisiert durch öffentliche Gelübde und folgende, kennzeichnende Kleidung - auf eigene Familien, um sich ganz in den Dienst der möglichst kinderreichen Gemeinschaft zu stellen!

Und so sind Religiöse quer durch alle Einkommens- und Bildungsschichten nicht nur regelmäßig kinderreicher als säkulare Populationen. Wir kennen auch einige extrem kinderreiche Traditionen wie die Old Order Amish, die Hutterer, die evangelikalen Quiverfulls und jüdischen Haredim, die wissenschaftliche Informationen filtern, aber zugleich dennoch (oder gar: deswegen?) evolutionär außerordentlich erfolgreich sind!

Ein offenes, metaphysisches Rätsel

Wir verstehen also die Prozesse der biologischen und kulturellen Evolution von Religiosität und Religionen schon sehr weitgehend. Aber „beschreiben“ heißt noch nicht verstehen. Über welche Art von Informationen sprechen wir, wenn Menschen Sinn, Gemeinschaft und schließlich Antworten auf die Anthropodizee finden? Fehlen uns hier nur noch die richtigen Begriffe, oder brauchen wir eine ganz neue, auch metaphysische Perspektive?

Aus Ihrem Mitdenken und ggf. -forschen erhoffe auch ich mir dazu mehr – Informationen…

Michael Blume (# Zur Person)
Veröffentlicht im Juli 2018

Bildnachweis
woman sitting alone at sunset near the sea: fotolia.com #74048649 | Urheber: anyaberkut
Grafik zu Religion & Demografie von Michael Blume, mit freundlicher Genehmigung

Die Frage der Anthropodizee

Warum soll Leben weitergegeben werden, wenn doch jedes Leben ohnehin nur leidet und letztlich sinnfrei wieder stirbt?

Werden religiöse Mythologien durch wissenschaftliche Informationen überflüssig? Nach Michael Blume zeigt die wissenschaftliche, interdisziplinäre Disziplin der Religionsdemografie: Umso besser es Menschen geht und umso gebildeter sie im Durchschnitt sind, umso stärker stoßen sie an die philosophische Grundfrage der #Anthropodizee.

Kommentare (9)

  • Christian Hoppe
    Christian Hoppe
    am 09.07.2018
    Hallo Michael,
    ich glaube nicht, dass ein Fehlen von Antworten auf metaphysische Fragen erklärt, warum Gebildete in der Regel weniger Nachkommen zeugen (und nur dies scheint mir das erklärungspflichtige Phänomen zu sein). Schon gar nicht halten Gebildete es häufiger für unverantwortlich, überhaupt Kinder zu haben. Ich denke, dass die vorhandene wirtschaftliche Eigen-Absicherung eine entscheidende Rolle spielt: dazu werden keine (eigenen!) Nachkommen mehr benötigt. Ferner könnte die Zeit für viele Kinder fehlen: man hat einerseits höhere Ansprüche an die Erziehung und Versorgung von Kindern, andererseits viele andersartige Interessen, für die man Zeit und Unabhängigkeit benötigt. Die durch Bildung sich wandelnde Rolle der Frau verdient hier besondere Beachtung.
    • Dr.med.Martin Zschornack
      Dr.med.Martin Zschornack
      am 18.09.2019
      Hierzu notiere ich nur meine Sicht auf die Antworten, ohne auf Einzelheiten der Argumente mit meinem Pro und Contra einzugehen , denn das wäre nur wieder selbstbezogen . Grundsätzlich und zusammenfassend deshalb nur : Diskussionen dieser Art leben von der Lust am Diskutieren , an der Lust am Rechthabenkönnen oder am mich Bescheiden . Müssen wir dabei die Sachen selbst oft aus den Augen verlieren, weil :
      es sich sowohl beim Glauben und anderseits beim Wissen um prinzipiell unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Erkenntniswege handelt hin zu ebenfalls völlig unterschiedlichen Erkenntnissen und schließlich Überzeugungent. So ist meine Sicht darauf . Ich versuche es einfacher zu sagen : Mein Glaube hängt zusammen mit meiner familiären Herkunft und meiner sog. Prägung durch Eltern und Erzieher. Ich habe ihn übernommen und so respektiere ich ihn . Mein Wissen hingegen ist das Ergebnis dessen, dass ich viel gelernt habe und mir dadurch eine eigene Meinung dazu selbst erworben habe, etwas also für richtig und bewiesen oder aber noch fragwürdig und weiterer Mühe für wert halte. Beides kann ich durch meine Denken zuverlässig unterscheiden. Die bleibende Frage ist dann nur noch, wie ich mit meinem Erkenntnisstand zurechtkomme in meinem Leben. Bin ich zufrieden und ohne weitere Fragen dazu, oder fühle ich oder weiß ich sogar, dass mir etwas noch fehlt am Wissen oder am Glauben ? Und vor allem : Kann ich es darauf beruhen lassen, dass es ist, wie es in mir ist, oder möchte ich mein Wissen und mein Glauben vervollkommnen ? Grüsse MZ
  • Klaus Stampfer
    Klaus Stampfer
    am 10.07.2018
    Gesellschaftliche Prozesse sind sehr verzahnt und beeinflussen sich gegenseitig. Somit ist es schwierig die Geburtenrate auf die Religiosität der Einwohner zu reduzieren. Kann es nicht sein, dass die Rolle der Frau, das Verhältnis zur Sexualität, die Einkommens- und Wohnsituation, staatliche Familienförderprogramme und die gesellschaftliche Wertschätzung von Kindern und Eltern, um nur einige zu nennen, entscheidende Faktoren für die Geburtenrate sind? Bestimmt korrelieren diese Faktoren mehr weniger stark mit der Religiosität der Menschen. Aber folgt daraus, dass es mehr Geburten geben würde, wenn die Leute nur gläubiger werden würden und die anderen Faktoren gleich bleiben? Ich bezweifle es. Wie stark nicht religiöse Faktoren die Geburtenrate beeinflussen zeigt die Entwicklung in China, von den politisch gewollten hohen Geburtenraten in den 1960er Jahren bis zur Ein-Kind-Politik in den Jahrzehnten danach.
  • Felix
    Felix
    am 04.05.2020
    Wäre ich religiöse, wurde ich nie Kinder zeugen, weil immer die Wahrscheinlichkeit besteht, dass meine Kinder dem schlimmsten Schicksal überhaupt, der ewigen Folter in der Hölle erleiden. Haben Religöse kein Verantwortungsbewusst? Bei nicht gezeugenten ist die Wahrscheinlichkeit gleich Null in der Hölle zu kommen. Bei gezeugeten über Null.
  • Frank Vogelsang
    Frank Vogelsang
    am 04.05.2020
    Nun ja, die wenigsten glauben an die Existenz einer Hölle. Auch in der Bibel spielen Höllenvorstellungen nur eine Randrolle. Die Hauptbotschaft lautet: Gott ist ein Gott des Lebens, der Leben schafft und erhält. Und: Der Tod hat keine Endgültigkeit, das zeigt die Botschaft von der Auferstehung!
  • Felix
    Felix
    am 05.05.2020
    @Frank Vogelsang
    Der Expapst und Jesus sind da anderer Meinung:
    „Jesus ist gekommen, um uns zu sagen, […] dass die Hölle, von der man in unserer Zeit so wenig spricht, existiert und ewig ist für jene, die ihre Augen vor seiner Liebe verschließen.„ Papst Benedikt XVI.
    Jesus: „Weg von mir in das ewige Feuer“ Mat 25, 41

    Die Hölle ist Fundamental für das Christentum. Die Kirchen hätte nie soviel Macht anhäufen können, wenn nicht mit der Hölle gedroht würde. Warum soll man sich an teils absurde Glaubensvorschrieften halten, wenn es keine negativen Konsequenzen gibt?
  • Benedikt Göcke
    Benedikt Göcke
    am 09.05.2020
    Spannend und auf jeden Fall auch lohnenswert zu lesen in diesem Zusammenhang ist das kurze Buch "Better Never to Have been. The Harm of Coming into Existence" von David Benatar (Oxford: OUP). Er argumentiert für die Schlussfolgerung, dass es in jedem Fall besser gewesen wäre, nie existiert zu haben, da keine Existenz zu haben für diejenigen, die sie nunmal nicht haben, kein Verlust ist, während es für diejenigen, die Leben, immer ein Verlust ist, das Leben zu verlieren, der axiologisch - so Benatar - niemals den Wert existiert zu habenaufwiegen kann.
  • Frank Vogelsang
    Frank Vogelsang
    am 09.05.2020
    Bemerkung zu Felix: Unstrittig ist, dass Höllenangst in der Vergangenheit eine Bedeutung hatte. Aber sie hat sie heute zumindest in großen Teilen des Christentums verloren. Dennoch gibt es viele Christinnen und Christen, die ihren Glauben Ernst nehmen. Offenkundig geht es auch ohne Höllenangst!
    Bemerkung zu Benedikt Göcke: Das Argument ist in der Tat interessant, aber auch sehr spekulativ, denn es bezieht sich ja konstitutiv auf etwas, was wir per definitionem nicht wissen: Was denken die, die keine Existenz haben, über die Tatsache, dass sie keine Existenz haben? Strukturell hat das Argument eine Nähe zu dem Argument von Pascal, dass man besser an Gott glauben solle. Beidesmal wird der Argumentationsbereich über das Bekannte ausgedehnt (den Pascalschen Gott kennt man ja auch nicht..) Ich finde das nicht sehr überzeugend..
  • Felix
    Felix
    am 06.08.2020
    Religiöse haben doch ein noch viel größeres Problem mit der Anthropodizee. Sie müssen doch bei einem allwissenden/allgütigen Gott davon ausgehen, dass dieser das Leid vorrausgesehen hat und sie trozdem ins Dasein geschmissen hat. Auch greift dieser Gott beim Leiden nicht ein. Die Theodizee zeigt doch fundamental den Widerspruch zwischen einem Allgütigen Gott und den unzähligen Leiden der fühlenden Wesen auf. Aus Allwissenheit und Allmacht folgt logisch Allverantwortlichkeit.
    Wärend nichtreligiöse davon ausgehen, dass das Leid nur schlechter Zufall ist (zumindest wenn es nicht von Menschen kommt).

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