Nachhaltigkeit gestern heute und morgen

Editorial von Frank Vogelsang

Wir leben in einer herausfordernden Zeit. Zunächst fällt jedem, wenn man heute einen Text so beginnt, die Corona Pandemie als vordringliche Herausforderung ein. Tatsächlich ist sie ja die Quelle vieler akuter Probleme und wirft von Anfang an auch theologische Fragen auf. Die relativ kurzfristige Belastung der Pandemie darf aber nicht die wesentlich drängenderen und langfristigen Probleme des Klimawandels in den Hintergrund schieben. Der Klimawandel hält nicht inne, weil gerade einmal eine Pandemie grassiert. Möglicherweise bieten die gesellschaftlichen Reaktionen auf die Pandemie Potentiale, die man auch für den Umgang mit dem Klimawandel nutzen kann, etwa ein verändertes Kommunikations- und Mobilitätsverhalten, weniger Dienstreisen und Fernflüge. Sicher ist das allerdings nicht. Und eine vollgültige Antwort auf den Klimawandel wäre das auch nicht.

Der langfristige Wandel des Klimas wird uns in der kommenden Zeit in allen gesellschaftlichen Bereichen herausfordern. In erster Linie sind Politik und Wirtschaft gefragt, aber auch viele kulturelle Akteure, auch die Kirchen. Denn es geht eben nicht nur um technisch zu lösende Aufgaben. Die Gesellschaft muss zu Entscheidungen in der Lage sein, die sie bislang gemieden hat. Wir wollen uns dieser Herausforderung in den kommenden Leitartikeln widmen und Fragen der Nachhaltigkeit und der Bewahrung der Schöpfung diskutieren. Wenn man sich allerdings im Jahr 2021 diesen Themen zuwendet, kann man das nicht tun, ohne zurückzublicken. Denn die Themen sind beileibe nicht neu. Zwar haben sie heute wieder Konjunktur, wir sind beeinflusst von Erfahrungen der großen Hitze und der Trockenheit der letzten Jahre und durch neue soziale Bewegungen wie „Fridays for Future“, aber das darf den Blick nicht für die Tatsache verstellen, dass die Fragen der Nachhaltigkeit schon seit langer Zeit diskutiert werden.

Denn spätestens zu Beginn der 90er Jahren gerieten Begriffe wie „Nachhaltigkeit“, „Sustainability“ und „Bewahrung der Schöpfung“ schon einmal in das Zentrum der Aufmerksamkeit. „Nachhaltige Entwicklung“ war ein zentraler Begriff des Programms „Agenda 21“, das auf der Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro 1992 vereinbart und die in den Folgekonferenzen wie Kyoto 1995 bestätigt wurde. Wer will kann auch noch weiter zurückgehen bis auf die ersten warnenden Stimmen wie dem Bericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ von 1972. Die Forderung nach Nachhaltigkeit verbreitete sich in den 90er Jahren schnell, viele Kommunen entwickelten in Deutschland eigene Programme einer lokalen Agenda 21. 1991 wurde das Wuppertal Institut für Klima, Energie und Umwelt gegründet. Dessen Gründungsdirektor, Ernst-Ulrich von Weizsäcker, hat in den 90er Jahren immer wieder auf die Folgen eines Konsums von Produkten hingewiesen hat, die weit entfernt produziert werden, sein Credo war, dass die Energieeinsparung die größte nachhaltige Energiequelle der Zukunft sei. Die Kirchen hatten Ende der 80er Jahre  in ökumenischer Verbundenheit einen konziliaren Prozess ausgerufen, ein Weg zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. In Basel kam es 1989 zu einer großen ökumenischen Versammlung, auf der zentrale Grundüberzeugungen proklamiert wurden. Seitdem ist die Bewahrung der Schöpfung ein wichtiger Kernpunkt kirchlichen Handelns. Im Laufe der 90er Jahren verbreiteten sich die Bewegungen, die Nachhaltigkeit und Bewahrung der Schöpfung zum Ziel hatten. Mit dem Wechsel der Bundesregierung 1998 änderte sich auch die Umweltpolitik auf Bundesebene. Dem Ausbau regenerativer Energiequellen wurde mit dem Energie-Einspeisegesetz ein kräftiger Impuls gegeben.

Waren wir seitdem auf dem richtigen Wege? Nein, denn zur gleichen Zeit wurde in den 90er Jahren die Globalisierung massiv ausgebaut. Die weltweiten Produktionsorte wurden miteinander verbunden, die Handelsströme massiv ausgeweitet, die Finanzmärkte geöffnet. Produziert wird seitdem irgendwo auf der Welt, die Lieferketten bis zum Endprodukt durchlaufen oft mehrere Länder. Die Container Häfen wuchsen ebenso wie die Containerschiffe. Deutschland hat wie kaum ein anderes Land in den letzten Jahrzehnten von dieser Globalisierung profitiert. Die Autoindustrie florierte, die Exporte überwogen im Verlauf der Jahre regelmäßig die Importe, Deutschland war in vielen Jahren „Exportweltmeister“. Daran änderte auch die Finanzkrise 2008 nicht viel, im Gegenteil, die Handelsbeziehungen zu aufsteigenden Nationen wie China wurden weiter intensiviert. Doch nicht nur die Globalisierung der Warenproduktion, auch andere Entwicklungen konterkarierten die Nachhaltigkeitsziele der 90er Jahre. Zwar wurden die Motoren der Autoindustrie immer effektiver und sparsamer, zugleich aber wuchsen die Modelle an Ausmaß und Gewicht. Auch die Zahl der produzierten PKW nahm erheblich zu. Heute verdienen die großen Produzenten vor allem an den allgemein beliebten SUV, eine Automobilform, die erst in den letzten Jahrzehnten entstand. Auch der Flugverkehr nahm in dieser Zeit dramatisch zu, die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands entwickelten sich zu Reiseweltmeistern. Die Flugtickets wurden im Gegenzug immer preiswerter, so genannte Billig-Airlines gewannen an Volumen. Neue energieintensive Urlaubsformen wie die Kreuzfahrten gewannen an Bedeutung.

Und so können wir heute, nach einer fast 30 jährigen Diskussion um Nachhaltigkeit keine zufrieden stellende Bilanz ziehen. Sicherlich wurde so manche Veränderung eingeleitet, heute wird in Deutschland fast die Hälfte der elektrischen Energie aus regenerativen Quellen geschöpft. Zugleich hat es eine Menge gegenläufiger Tendenzen gegeben, die die Fortschritte konterkarierten. Die Politik hat stets versucht, beides zu realisieren: Die Quellen des kurzfristigen wirtschaftlichen Wachstums sichern und nachhaltige Ziele verfolgen. Offenkundig lässt sich beides aber nicht so leicht harmonisieren. Wir müssen künftig Wohlstand stärker unabhängig von dem Wachstum der Stoffströme denken.

Wir stehen deshalb nun an einem Scheidepunkt. Spätestens die Folge der immer wärmeren Jahre mit größerer Trockenheit haben allen vor Augen geführt, dass der Klimawandel ungebremst weiter vorangeschritten ist, dass die Kompromisse der Vergangenheit eben gerade nicht nachhaltig waren. Die EU hat den weitreichenden Beschluss gefasst, bis 2030 55 Prozent der Treibhausgase bezogen auf das Referenzjahr 1990 zu reduzieren. Das ist ein äußerst ambitioniertes Ziel, das in das Leben aller eingreifen wird. In Deutschland ist die Treibhausgasproduktion 2018 bezogen auf das Referenzjahr 1990 erst um 31 Prozent. Wenn die ersten 28 Jahre zu einer Reduktion von 31 Prozent geführt haben, ist das Ziel, in den folgenden 12 Jahren noch einmal 24 Prozent zu reduzieren. Dabei sind die Ausgangsbedingungen für Deutschland günstig, das Referenzjahr 1990 beinhaltet all die Altlasten der Braunkohleproduktion der DDR, die schnell deutlich reduziert wurden.

Diese Herausforderungen werden wir nur bestehen, wenn wir uns auch auf Quellen von Lebenssinn beziehen, die nicht allein von dem Erhalt und der Steigerung des Wachstums von Stoffströmen und Mobilität bestimmt sind. Wenn wir zurück blicken und die überschaubaren Erfolge der Diskussion um Nachhaltigkeit, Sustainability, Bewahrung der Schöpfung sehen, wird deutlich, dass die kommende Diskussion nicht einfach daran anknüpfen kann. Es braucht eine vertiefte Bereitschaft zum Umdenken, zur Veränderung der Lebensgewohnheiten. Hier ist insbesondere auch ein Beitrag der Kirchen gefordert. Die „Bewahrung der Schöpfung“ kann nicht allein auf ein klimapolitisches Ziel ausgerichtet sein, sie muss auch neue spirituelle Quellen erschließen. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Ist es so, dass allein eine Trecking Tour auf den Kilimandscharo Lebenserfahrung ausweitet? Kann es nicht auch sein, dass die Begegnungen an der nächsten Straßenecke oder im Garten, im Park oder im nahen Wald ähnliche existentielle Erfahrungen auslösen können? Ist unsere Weise der alltäglichen Mobilität wirklich zielführend? Was genau ist das Ziel? Ein Gast aus der weltweiten Ökumene fragte, als er in Deutschland von einer Autobahnbrücke auf den brausenden Verkehr schaute: „Wo wollen die denn alle so schnell hin?“ Vielleicht sind das die Fragen, die künftigen Lebensformen der Nachhaltigkeit den Weg weisen.

Frank Vogelsang
Publiziert im Januar 2021

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